Amplonius – Ein strategischer Büchersammler: ein Leben lang?

Bereits in den letzten Blogbeiträgen habe ich über das Articella-Konvolut und seine Bedeutung für die medizinische Lehre berichtet. Heute möchte ich den Blick auf eine andere zentrale Schrift der medizinischen Lehre an mittelalterlichen Universitäten lenken, die uns gleichzeitig einen wichtigen Einblick in die Sammlungsgeschichte der Amploniana bietet: Abū Bakr Muḥammad bin Zakaryā ar-Rāzī (kurz: Rasis) war ein Arzt und Krankenhausleiter aus Rey, einer bedeutenden Stadt der Antike und des frühen Mittelalters nahe Teheran. Er tat sich mit knapp 150 Schriften auch als produktiver Wissenschaftler und Philosoph hervor. Für das europäische Mittelalter war besonders der Liber medicinalis ad Almansorem von großer Bedeutung, da er in diesem Werk das umfangreiche Corpus des antiken Arztes Galen strukturierte und daraus einen Lehrplan für das Studium der Medizin erschuf. Dieses Werk fand schließlich durch die lateinische Übersetzung des Gerhard von Cremona Einzug in den medizinischen Lehrplan der europäischen Universitäten.

Abb. 1: CA 2° 260, fol. 4r

In der Amploniana befinden sich insgesamt sieben Handschriften mit diesem Text. Mit Hilfe des von Amplonius eigenhändig angefertigten Katalogs zur ersten Tranche seiner Stiftung wissen wir, dass er zunächst vier Bände mit dem Liber medicinalis des Rasis gestiftet hat. Hierbei handelt es sich um die Handschriften CA 2° 265, CA 2° 291, CA 4° 214, CA 4° 230, die im Amplonius-Katalog mit den Nummern 36, 58, 52 und 66 in der Rubrik De medicine verzeichnet waren. Als sammlungsgeschichtlich besonders interessant haben sich jedoch zwei der Rasis-Handschriften herausgestellt, die erst nach der Stiftung des Amplonius Eingang in das Collegium Porta Coeli fanden. Hierbei handelt es sich um CA 2° 244 und CA 2° 260, die mit den Nummern 132 und 124 De medicine in den Bestand der Amploniana kamen. Sie gehören also zu den Nachstiftungen, bei denen bis dato noch nicht geklärt ist, auf welchem Weg und vor allem durch wen sie in die Sammlung gelangten.

Abb. 2: CA 2° 244, fol. 3r
Abb. 4: CA 2° 260, fol. 201r
Abb. 3: CA 2° 244, fol. 27r

Hier konnten jedoch im Zuge des laufenden Projekts wichtige Erkenntnisse gesammelt werden, die sich aus der Objektgeschichte der beiden Handschriften ergeben. So wurden beide Handschriften durch Schriftbefund nach Montpellier in die 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts verortet. Zwar lassen sich bei den Schreibhänden keine Gemeinsamkeiten erkennen, doch weisen beide als Textzeugen eine Besonderheit auf: Wie Danielle Jacquart nachgewiesen hat¹, handelt es sich hier bei beiden Texten nicht um die Übersetzung durch Gerhard von Cremona, sondern um die eines unbekannten Übersetzers, welche offensichtlich in Montpellier in jener Zeit im Umlauf war. Neben diesen überlieferungsgeschichtlichen Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch objektgeschichtliche Gemeinsamkeiten, die auf das Ende des 14. Jahrhunderts weisen. In dieser Zeit müssen sich beide Bände bereits im deutschen Raum befunden haben. Denn in jener Zeit wurden beide Handschriften von der gleichen, nordalpinen Hand mit Blick auf die Nutzerfreundlichkeit überarbeitet. Hierfür wurde nicht nur der Text mit Überschriften und Rubriken versehen, sondern auch Verzeichnisse angelegt, um die Handschriften besser nutzen zu können (Vgl. Abb. 1-4). Da beides von gleicher Hand in gleicher Art durchgeführt wurde, dürfte es sich hier um eine bewusste Überarbeitung für eine weitere Nutzung außerhalb des Privatbesitzes handeln.

Es wäre natürlich naheliegend, diese Überarbeitungen Amplonius selbst für eine Nachstiftung zuzuschreiben, da sie noch in einem Segment vorkommen, in dem sich überwiegend Nachstiftungen des Amplonius befinden. Doch wurden die Überarbeitungen von einer geübten Hand im vierten Viertel des 14. Jahrhunderts angefertigt, sodass Amplonius hier wohl nicht in Frage kommt. Es muss also ein anderer Vorbesitzer gewesen sein, der diese Überarbeitungen für eine Nutzung in einer anderen Institution überarbeitet hat. Eine solche Institution könnte die Stiftskirche St. Aposteln in Köln gewesen sein. Denn auf diese weist das Einbandfragment aus der Handschrift CA 2° 244 hin, dass einem gewissen Heinrich von Neumagen Pfründe für eine Lehrtätigkeit an der dortigen Klosterschule in Aussicht stellte. Da Amplonius aber selbst ab 1400 dort als Kanoniker wirkte, ist es zumindest möglich, dass er diese besonders benutzerfreundlichen Rasisbände erwarb, um sie später als Nachstiftung dem Collegium Porta Coeli zur Verfügung zu stellen. In der Sammlung selbst hatten dann auch beide Bände eine zentrale Bedeutung, da sie im Verlauf des 15. Jahrhunderts mit einer Kette und Buckeln versehen (vgl. Abb. 5 und 6) und den Studenten als zentrale Lernwerke an Pulten dargeboten wurden.

Abb. 5: CA 2° 260, hinterer Buchdeckel mit Kette, Schließe und Buckeln
Abb. 6: CA 2° 244, hinterer Buchdeckel mit gleicher Kette, gleicher Schließe und gleichen Buckeln

Doch was würde das für die Sammlungsgeschichte bedeuten? Die vergleichsweise hohen Nummern haben bisher dazu geführt, diese Bände nicht als Nachstiftung des Amplonius einzuordnen. Durch die Hinweise jedoch muss zumindest die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass auch im Segment 100-150 De medicine noch zahlreiche Bände zu finden sind, die Amplonius nicht nur wegen ihres Inhalts, sondern auch wegen ihrer Benutzerfreundlichkeit für seine Stiftung erwarb und diese Bände nachstiftete.

¹ Vgl. Danielle Jacquart, Note sur la traduction latine du Kitab al-Mansaura de Rhazès, Revue d’histoire des textes, 24, 1994, p. 359-374.

Sven-Philipp Brandt

 

 

„Neuigkeiten über ziemlich alte Bücher. Erkundungen und Entdeckungen in der Bibliotheca Amploniana“

In der Reihe „Amploniana Bildungsgeschichten“ der Universität Erfurt findet am Mittwoch, 4. Mai, ein weiterer Vortrag statt. Dr. Marek Wejwoda spricht darin über „Neuigkeiten über ziemlich alte Bücher. Erkundungen und Entdeckungen in der Bibliotheca Amploniana“. Die öffentliche Veranstaltung beginnt um 18.30 Uhr in der Bibliothek am Domplatz in Erfurt.

Die in der Universitätsbibliothek Erfurt bewahrte „Bibliotheca Amploniana“ ist ein Superlativ der Bildungsgeschichte des Mittelalters. Die 633 Bücher zu allen Wissensgebieten der Zeit, die Amplonius Rating aus Rheinberg gesammelt und 1412 dem Erfurter Kolleg zur Himmelspforte geschenkt hat, bilden die größte geschlossen erhaltene private Büchersammlung des Mittelalters überhaupt. Die Amploniana gilt deshalb zu Recht als einzigartiger Schatz. Wenn man genauer wissen will, was dieser Schatz enthält und was er uns über Bildung und Wissenskultur des Mittelalters sagen kann, ist dieser Superlativ allerdings auch ein Problem. Die mit der Hand geschriebenen Bücher mit lateinischen Texten sind ein sprödes und schwieriges Material. Jedes Stück ist ein Unikat mit zahlreichen Spuren einer individuellen Geschichte, die aufwändig rekonstruiert werden muss, und schon ihre schiere Anzahl erschwert deswegen die Erschließung. Wilhelm Schum hat sich dieser Herausforderung im 19. Jahrhundert gestellt und 1887 einen Katalog mit Handschriftenbeschreibungen veröffentlicht, der für seine Zeit ein Meisterwerk war und bis heute maßgeblich ist.

Mit den Methoden und Möglichkeiten der modernen Handschriftenforschung stellt man aber auch schnell fest, dass die Amploniana eine noch weit ertragreichere Fundgrube ist, als Schums Katalog ahnen lässt. Hier setzt das derzeit laufende DFG-Projekt zur Digitalisierung und Tiefenerschließung der medizinischen Handschriften der Amploniana an. Wie Handschriftenerschließer heute arbeiten, wie man mittelalterliche Handschriften zum Sprechen bringt, was sie uns erzählen können und was man in der „Bibliotheca Amploniana“ noch alles entdecken kann – darüber informiert der Vortrag von Projektmitarbeiter Dr. Marek Wejwoda.

Die Anmeldung zur Veranstaltung ist per E-Mail an veranstaltungen.bibliothek@erfurt.de oder telefonisch unter 0361 655-1590 möglich.

Weitere Informationen:
Veranstaltungsflyer (pdf)
Bibliotheca Amploniana

Der Buchschmuck in den Articella-Handschriften

Nachdem ich in den letzten beiden Blogbeiträgen einen Einblick in die Geschichte des Articella-Konvoluts gegeben habe, möchte ich noch etwas genauer auf den Buchschmuck innerhalb dieser kleinen Lehrbuchsammlung eingehen.

Der Buchschmuck hatte in mittelalterlichen Kodizes mehrere Funktionen. Einerseits konnte er die Repräsentativität des Bandes erhöhen, wenn er besonders elaboriert war. Diese kunstvollen Bilder wurden dann auch von Meistern angefertigt, die sich ausschließlich auf die Buchmalerei spezialisiert hatten. Andererseits waren sie aber auch für die spätere Nutzung des Bandes hilfreich, weil sie eine wichtige Orientierungshilfe bei der Nutzung der Handschriften waren. Hierzu wurde in der Regel der erste Buchstabe eines Textes, die Initiale, besonders aufwändig verziert. Doch auch untergeordnete Texteinheiten wie Kapitel- oder Satzanfänge wurden häufig für eine bessere Orientierung verziert – wenn auch deutlich schlichter mit Fleuronné, Lombarden oder einfachen Buchstabenstrichelungen (Abb. 1).

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Abb. 1: CA 2° 246, 1r. Der lehrende Hippokrates mit einem Schüler. Zudem zur weiteren Textgliederung unten links eine weitere Fleuronné-Initiale, oben rechts ein Alinea-Zeichen und zahlreiche Buchstabenstrichelungen an den Satzanfängen.

 

Für Handschriften aus dem universitären Kontext, die viel genutzt und häufig weitergereicht wurden, verzichtete man jedoch meist auf die kostspielige Buchmalerei. Dennoch befinden sich in den Articella-Beständen der Amploniana einige Exemplare mit sehr hochwertigem Buchschmuck. Ein Beispiel ist hierfür die CA 2°246. Bei dieser Handschrift findet sich an jedem Textbeginn eine besonders kunstvoll verzierte Initiale, in der ein Arzt bei einer Tätigkeit dargestellt wird. Solche Initialen nennt man in der Fachsprache historisierte Initialen, da sie meist konkrete Personen darstellen.

In unserem Fall ist vermutlich Hippokrates als Autor der Texte abgebildet, der im ersten Beispiel als Lehrender mit einem Schüler an einem Tisch mit Buch dargestellt wird (Abb. 1). Die ganze Szene ist innerhalb des Buchstabens P abgebildet, der sich auf einem blauen Feld mit weißem Filigran befindet. Hiervon gehen dann mit Dornen und Perlen verzierte Akanthusranken in verschiedenen Deckfarben ab. Abgerundet wird das ganze unterhalb des Textes mit einem Medaillon, das vermutlich die Personifikation der Medizin darstellen soll (Abb. 2).

Abb. 2: CA 2° 246, 1r. Vermutlich die Personifikation der Medizin (evtl. Hygieia), dargestellt mit einer Schriftrolle.

 

Auf der zweiten historisierten Initiale (Abb. 3) ist Hippokrates wiederum als Arzt bei der Begutachtung eines Urinschauglases dargestellt, womit die Diagnostik eines Arztes veranschaulicht wird. Auch dieses Bild ist innerhalb eines Buchstabens dargestellt, in diesem Fall dem U bzw. V von videtur. Und auch hier gehen von der Initiale in gleichem Stil gemalte Akanthusranken in Deckfarben ab, die damit beim Blättern den Textbeginn des neuen Textes ins Auge springen lassen.

Abb. 3: CA 2° 246, 53r. Initiales V für videtur, das hier aber eigentlich ein U ist, da im Lateinischen ursprünglich nicht zwischen U und V unterschieden wurde. Deshalb findet sich auch auf antiken Inschriften bspw. SENATVS POPVLVSQVE ROMANVS.

 

Bemerkenswert ist auch die historisierte Initiale des dritten Textes (Abb. 4). Hier musste aufgrund des Textbeginns das I von illi zu einer Initiale gestaltet werden. Da die historisierten Initialen aber innerhalb des Buchstabenkörpers gemalt wurden, war dies für den Buchmaler eine größere Herausforderung. Da er zudem Hippokrates als Arzt bei der Therapie darstellen sollte, der einen Kranken mit einer Medizin versorgt, musste er in diesem Fall den Buchstabenkörper auf beiden Seiten etwas verlassen, um die gewünschte Szene darstellen zu können.

Abb. 4: CA 2° 246, 87r. Hippokrates beim Verabreichen einer Medizin

 

Die Buchmalerei ist aber nicht nur schön anzusehen, sondern gibt auch den Handschriftenbeschreiber*innen wichtige Hinweise zur Lokalisierung und Datierung der Handschrift. Da die zeitgenössischen Buchmaler natürlich nicht wussten, wie der ‚alte Grieche‘ Hippokrates gekleidet war, malten Sie ihn in der lokalen zeitgenössischen Tracht. Diese lässt sich den wohlhabenden Bürgern Venedigs des 14. Jahrhunderts zuordnen, da hier die typische Kopfbedeckung des Stadtadels, eine turbanartige Haube (Capucci) dargestellt ist, die auf einer weißen Leinenhaube getragen wurde (vgl. Leventon, Kostüme Weltweit, 2009, S. 81f.).

Die kombinierte Analyse von Schrift, Inhalt und Buchschmuck weißt daher auf Bologna oder Padua als Ursprungsort hin, da sich dort die großen medizinischen Fakultäten der Region befanden. Allerdings deutet der elaborierte Buchschmuck dieser Handschrift sowie der Umstand, dass hier lediglich die drei großen Articella-Texte überliefert sind, darauf hin, dass es sich bei dieser Handschrift um einen repräsentativen Band handelt, den sich entweder ein sehr wohlhabender Student für sein Studium anfertigen ließ oder ein fertig ausgebildeter Arzt. Denn die drei Initialen bilden die drei zentralen Aufgaben des Arztes jener Zeit ab, nämlich die Lehre, die Diagnose und die Therapie.

Sven-Philipp Brandt

Die Articella-Handschriften der Amploniana und ihre ‘französische‘ Herkunft

Bereits im letzten Blogbeitrag vom 17.11.2021 habe ich das Konvolut der Articella-Handschriften vorgestellt. Heute möchte ich daran anknüpfen und zeigen, welche Rückschlüsse und Interpretationsmöglichkeiten sich aus dem Konvolut für die Sammlungsgeschichte der Amploniana ziehen lassen.
Es ist sehr bemerkenswert, dass sieben der neun Articella-Kodizes der Sammlung aus dem südfranzösischen Raum stammen und nur je ein Exemplar aus Italien bzw. Paris. Das ist umso erstaunlicher, da in jener Zeit des 13. Jahrhunderts mit Salerno, Bologna und Padua vor allem italienische Städte in der medizinischen Lehre führend waren und die medizinische Fakultät in Bologna ihren Lehrplan sogar an der Articella ausgerichtet hatte. Im französischen Raum stach wiederum nur das im Süden gelegene Montpellier mit seiner 1220 gegründeten medizinischen Schule hervor, die 1289 in eine Universität umgewandelt wurde.
Doch wie kam es dazu, dass vor allem Articella-Handschriften aus Montpellier ihren Weg in die Amploniana fanden? Hierfür ist die Erforschung der Objektgeschichte hilfreich, mit der sich das aktuelle DFG-Projekt befasst. So lassen sich in den meisten dieser Handschriften Spuren finden, die eine Zwischenstation in Paris nahelegen.

Abb. 1: CA 2° 285 fol. Vorblatt IV r: Magister Johannes Chareton est un bon homme

Das reicht von der Nennung eines ausschließlich in Paris und Umgebung belegten Professors im Einband [Abb. 1] über einen Preisvermerk mit einer ausschließlich in Nordfrankreich gebräuchlichen Währung [Abb. 2] bis hin zu einer Kommentarhand, die sich einem gewissen Henricus Maltmyngher de Berka zuordnen lässt.

Abb. 2: CA 2° 264 fol. 237v: Radierter Preisvermerk, mit Quarzlampe zu erkennen: Libras Parisiensis, was auf den Livre Parisis als nordfranzösische Rechnungsmünze verweist, vgl. Kroha, Großes Lexikon der Numismatik, s.v. Livre.

Und genau dieser Henricus könnte auch der Schlüssel für dieses Herkunftsrätsel sein: Er war zunächst als Schreiber für Amplonius tätig, nahm schließlich 1394 unter dem Rektorat des Amplonius in Erfurt sein Studium auf und führte dies unter dessen Rektorat in Köln weiter fort. Im Jahr 1401 wechselte Henricus dann für einige Jahre an die Universität Paris und war dort unter anderem Prokurator für die englisch-deutsche Nation. Da er in der Handschrift CA 4° 319 das Haus als Amplonius als seine Arche, seinen geborgenen Rückzugsort, bezeichnet und auch einige Bücher der Amploniana nachweislich aus dem Vorbesitz des Henricus stammen, scheint er über die Jahre ein sehr enges Verhältnis zu seinem Förderer Amplonius gepflegt zu haben. Es wäre daher durchaus denkbar, dass eben jener Henricus für Amplonius und seine beabsichtigte Stiftung die Anwesenheit in Paris nutzte, hochwertige Articella-Handschriften als kleine Lehrbuchsammlung für Amplonius anzukaufen. Möglich wäre auch, dass Amplonius nach dem frühen Tod des Henricus dessen Bibliothek übernahm und dort eben aus der Pariser Zeit neben einigen anderen Kodizes auch diese Articella-Bände übernahm.
Bliebe abschließend noch zu klären, weshalb so viele Handschriften von Montpellier nach Paris kamen: In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurde Montpellier immer wieder von verheerenden Seuchen heimgesucht, sodass sich die Bevölkerungszahl in dieser Zeit um ein Drittel reduzierte. Diese wiederkehrenden Epidemien sorgten für einen Abwanderung fachkundiger Personen nach Paris, die auf diesem Wege auch zahlreiche medizinische Schriften mit nach Paris nahmen und so auch für Amplonius und sein Umfeld zugänglich machten.

Autor: Sven-Philipp Brandt

Die Articella-Handschriften der Amploniana: Eine mittelalterliche Lehrbuchsammlung

An den Universitäten des Mittelalters gab es für das Medizinstudium eine Sammlung medizinischer Texte, die im späten 11. Jahrhundert im italienischen Salerno entstand und sich von dort aus als zentrales Lehrbuch an den medizinischen Fakultäten in Westeuropa ausbreitete. In diesem Lehrbuch wurden kleine zentrale medizinische Texte gesammelt, die überwiegend aus der Antike stammten und auch bereits in jener Zeit von anderen Medizinern kommentiert wurden. So gehörten zu diesem Kanon zunächst drei Werke aus dem Corpus Hippocraticum, die der römische Arzt Galen kommentiert hatte. Am bekanntesten dürften hier wohl die Aphorismen des Hippokrates sein, bei denen es sich um 422 medizinische Sentenzen handelt und die in den Articella-Handschriften stets mit dem auch aus Goethes Faust bekannten Satz Vita brevis, ars vero longa beginnen („Das Leben ist kurz, die Kunst der Wissenschaft aber ist von Dauer“; im Original übrigens: Ὁ μὲν βίος βραχύς, ἡ δὲ τέχνη μακρά).

Doch wie bei modernen Lehrbuchsammlungen entwickelte sich auch dieser kleine medizinische Kanon weiter. Einerseits wurden die Articella-Handschriften mit weiteren nützlichen Texten wie dem Werk De urinis des Theophilos erweitert, das sich der Auswertung des Urins von Kranken widmete – einst eine wichtige medizinische Praxis, die sich in zahlreichen Darstellungen mit Harnschauglas in mittelalterlichen Handschriften niederschlägt [Abb. 1]. Andererseits wurden auch die Texte selbst weiter kommentiert, sodass sich bald ‚kommentierte Kommentare‘ in den Handschriften fanden. Diese Entwicklung geschah vor allem in der Mitte des 13. Jahrhunderts, woraus sich zwei Arten der Articella-Handschriften herausbildeten: Die älteren wurden bereits im Mittelalter ars medica benannt, während die späteren durch ihren größeren Kommentaranteil als ars commentata abgegrenzt wurden.

Abb. 1: Hippocrates mit Harnschauglas (CA 2° 246, fol. 53r)

Diese historische Entwicklung der ‚Articella-Lehrbuchsammlung‘ lässt sich auch in der Amploniana nachvollziehen und verrät gleichzeitig etwas über die Sammlungsgeschichte: Von den neun Articella-Handschriften der Amploniana lassen sich zwei der ‚alten Auflage‘, der ars medica zuordnen, während die anderen sieben Handschriften bereits der ars commentata zugerechnet werden können. Auffallend sind hier vor allem die beiden älteren Kodizes, von denen die CA 2° 246 durch besonders ausgestaltete Initialen auffällt und die CA 2° 266a bereits kurz nach der Abfassung eine intensive Überarbeitung erfahren hat.

Allerdings sind diese beiden Handschriften nicht die ältesten Articella-Handschriften in der Amploniana. Denn während sich beide mit Hilfe von Schrift- und Buchschmuckvergleichen eindeutig in das erste Viertel des 14. Jahrhunderts datieren lassen, existiert mit der CA 2° 285 noch eine deutlich ältere Articella-Handschrift in der Sammlung. Durch ein Kolophon, einen Vermerk des Schreibers mit Datumsangabe, gilt diese Handschrift als weltweit älteste, datierte ars commentata aus dem Jahr 1270. Demnach existierte die ‚neuere‘ Version der Amploniana bereits 50 Jahre, bevor die ‚älteren‘ Abschriften überhaupt abgeschrieben wurden.

Doch wieso schrieb man eine ‚alte Auflage‘ ab? Hierfür gibt es verschiedene Erklärungen: Die CA 2° 246 mit ihrem außergewöhnlich schönen Buchschmuck und ihrer Fokussierung auf die drei grundlegenden Hippokratestexte dürfte eher einen repräsentativen Charakter für den Auftraggeber gehabt haben. Erst später wurde sie offensichtlich auch fürs Studium verwendet, was vor allem die vielen Anmerkungen aus dem 15. Jahrhundert zeigen. Bei der CA 2° 266a fand bereits kurz nach der Abschrift eine gründliche Überarbeitung statt [Abb. 2].

Abb. 2: Neben dem Haupttext finden sich zahlreiche Kommentare mit einer sehr ordentlichen, aber sehr kleinen Schrift von lediglich 1 mm Höhe, CA 2° 266a 1r.

Offensichtlich hat hier ein Student eine alte Auflage erwischt, wie manche Studierende es ja auch heute noch kennen, wenn sie sich ein Lehrbuch im Antiquariat beschaffen. Der mittelalterliche Student wusste sich aber dahingehend zu helfen, dass er das Buch gegen eine Zahlung von sex vallodia entsprechend überarbeiten und so zu einer ars commentata werden ließ.

Autor: Sven-Philipp Brandt

Unterwegs in Werkstätten und Museen: warum wertvolle Handschriften und Drucke ihr Zuhause verlassen

Gart der Gesundheit (I. 4° 354): Walderdbeere

Für WissenschaftlerInnen und Studierende aus der Universität Erfurt und dem In- und Ausland ist der Altbestand der Universitätsbibliothek mit seinen wertvollen Alten Drucken, Inkunabeln und Handschriften eine Fundgrube an bedeutenden Texten. Diese können vor Ort gelesen und untersucht werden oder als Reproduktionen für den wissenschaftlichen Gebrauch bestellt werden. Im Zuge unseres Digitalisierungsprojekts ist auch der Zugriff auf die zunehmende Anzahl von Digitalisaten ein wichtiger Service für alle Interessierten, die von fern auf die Scans zugreifen wollen.
Unsere Altbestände können ausschließlich in den klimatisierten Räumlichkeiten der UB genutzt werden. Außer Haus gehen sie nur für Restaurierungsmaßnahmen und Ausstellungszwecke. In ersterem Fall werden Schäden an Einband, Papier bzw. Pergament behoben oder sogar umfangreiche Sicherungen von Farbaufträgen vorgenommen. In letzterem Fall unterstützen wir Bibliotheken, Museen oder ähnliche Einrichtungen mit Leihgaben aus unserem Bestand.
Allein in diesem Jahr haben wir zwei Ausstellungen mit Leihgaben bereichert: für die Ausstellung „Blühstreifen – Zwischen Traum und Zaun. Gärten im Fokus der Kunst“, die in der Kunsthalle Erfurt anlässlich der BUGA 2021 stattfand, stellten wir zwei Inkunabeln – „Gart der Gesundheit“ (I. 4° 354) von vor 1498 und eine deutschsprachige Bibel mit einer Paradiesdarstellung (I. 4° 336) von 1485 – zur Verfügung. Zu sehen war auch ein Werk Christian Reicharts, dem aus Erfurt stammenden Begründer des deutschen Gartenbaus.

Eine andere Handschrift trat eine weitere Reise an. Im Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim wird die Amplonianische Handschrift CA 4° 193 mit dem Pariser Pestgutachten „Compendium de epidemia“ ausgestellt und ist ein wichtiger Beitrag zur Sonderausstellung „Seuchen – Fluch der Vergangenheit, Bedrohung der Zukunft“.

Aufgrund der langen Ausstellungsdauer wird diese Handschrift durch zwei weitere abgelöst, da selbst unter hervorragenden konservatorischen Bedingungen die sensiblen Handschriften nur begrenzte Zeit gezeigt werden können.

Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit für einen Besuch in dieser spannenden Ausstellung!