Wortschatz Bibliothek. Heute: Kettenbuch, das; -er

Wenn man von Kettenbüchern spricht, sind damit im bibliothekarischen Sprachgebrauch weder skurrile Modeaccessoires noch Fußfesseln gemeint. Vielmehr handelt es sich bei diesen Büchern (alte Handschriften oder Drucke) um Bände, die mittels am Buchdeckel angebrachter Ketten an Lesepulten in mittelalterlichen Bibliotheken gesichert zum Lesen zur Verfügung gestellt werden konnten. Diese libri catenati (lat. angekettete Bücher) wurden so vor Diebstahl bewahrt und waren vor Absturz und Beschädigungen gesichert. Auch wurde ein Verstellen der Bücher verhindert.

Noch heute gibt es Bibliotheken, wo man diese Art der Bereitstellung besichtigen kann: Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz oder die Chained Library an der Hereford Cathedral.

Amploniana-Handschrift CA 2° 141 mit Kette
Amploniana-Handschrift CA 2° 141 mit Kette

Auch in den historischen Beständen der UB Erfurt können wir noch heute zahlreiche Bände mit intakten Ketten finden; vielfach wurden Sie jedoch entfernt, weil sie einer Aufstellung in den Regalen hinderlich oder defekt waren.

Andrea Langner

Handschrift CA 8° 55 mit Kette am Hinterdeckel
Handschrift CA 8° 55 mit Kette am Hinterdeckel

 

 

Handschriften der Bibliotheca Amploniana im Stadtmuseum

Durch eine enge Kooperation mit dem Stadtmuseum Erfurt sind ab übermorgen im „Haus zum Stockfisch“ in der Johannesstraße 169 regelmäßig Handschriften der berühmten Bibliotheca Amploniana öffentlich zu sehen. Die neue Ausstellungsvitrine, welche in der Dauerausstellung zur mittelalterlichen Großstadt ihren Platz findet, wird viermal im Jahr mit einem neuen Codex bestückt, sodass es immer wieder etwas Neues zu entdecken gibt. Als erstes Buch wird eine reich verzierte Sammelhandschrift aus dem 13. Jahrhundert mit verschiedenen naturphilosophischen Texten gezeigt. Das Stadtmuseum lädt herzlich zur feierlichen Einweihung der Vitrine im Rahmen einer Eröffnungsveranstaltung am 7. Februar 2024 um 11 Uhr ein.

Blick auf das erste Blatt, das im Stadtmuseum ab dem 7. Februar 2024 zu sehen ist.
Foto: © Stadtverwaltung Erfurt

https://www.erfurt.de/ef/de/service/aktuelles/pm/2024/146685.html
https://www.erfurt.de/ef/de/service/mediathek/video/2024/146736.html
https://geschichtsmuseen.erfurt.de/gm/de/service/mediathek/2024/ef_146724.html
https://app.mdr.de/mdr-aktuell/video/video-796478 (MDR Thüringen Journal vom 07.02.2024, ab Minute 21:10)

Nachtrag: Thüringer Allgemeine Nr. 44 (Erfurt), Mittwoch, 21. Februar 2024, S. 16: https://www.pressreader.com/germany/thuringer-allgemeine-erfurt/20240221/page/16 (bis 90 Tage nach Erscheinen sichtbar)

Dr. Katrin Ott

Der Katalog des Amplonius

Für die Stiftung seiner Bibliothek an das von ihm gegründete Kolleg zur Himmelspforte (Collegium Porta Coeli) erfasste Amplonius Rating de Berka zwischen 1410 und 1412 alle Werke, die er zu diesem Zeitpunkt besaß, in einem Katalog. Das waren 633 Codices mit etwa 4.500 Werken, und damit die größte geschlossen erhaltene Handschriftensammlung eines einzelnen Gelehrten des Spätmittelalters! Ob Amplonius diesen Katalog tatsächlich eigenhändig geschrieben, diktiert oder in Auftrag gegeben hat, darüber diskutieren Handschriftenforscher:innen bis heute. Auf jeden Fall ist er eine zeitgenössische Quelle, wie sie sich bei privaten Büchersammlungen selten erhalten hat.

Der Katalog mit seinen 46 Blatt hat ein schmales Hochformat (“Schmal-Folio”. Höhe: 31,5 cm; Breite: 12,4 cm) und ist in Papier eingebunden, welches eine aus dem späteren 18. Jahrhundert stammende Aufschrift trägt: “Amplonii Ratynck de Berka (al. de Fago) artium et medicinae Doctoris Catalogus librorum manuscriptorum in propria bibliotheca asservatorum”: “Katalog der in der eigenen Bibliothek des Amplonius Ratynck de Berka (alias de Fago), Doktors der Artes und der Medizin, verwahrten handgeschriebenen Bücher”.

Katalog des Amplonius, Dep. Erf., CA 2° 404, Einband mit Beschriftung aus dem späteren 18. Jahrhundert: https://dhb.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ufb_derivate_00015872/CA-2-00404_0005.tif

Der Katalog ist in 12 Abteilungen gegliedert. Jede Abteilung beginnt mit den Worten “Isti sunt libri quos ego Amplonius habeo …”: “Das sind die Bücher, die ich, Amplonius, besitze …”.

Katalog des Amplonius, Dep. Erf., CA 2° 404, Beginn des Verzeichnisses seiner im Bereich Theologie gesammelten Werke : “De Theologia: Isti sunt libri quos Ego Amplonius habeo in sacra theologia”: “Über die Theologie: Dies sind die Bücher, die ich, Amplonius, in der heiligen Theologie besitze”; https://dhb.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ufb_derivate_00015872/CA-2-00404_0062.tif?logicalDiv=log_811496-ba6e-6be3-c14fb8d89

Wie hier bei der Theologie werden in dem Katalog nach der Benennung des Fachs jeweils die einzelnen Bände und die in ihnen enthaltenen Schriften aufgeführt.

Grammatik und Poetik: 71 Codices
Logik (Dialektik): 27 Codices
Rhetorik: 12 Codices
Mathematik: 73 Codices
Naturphilosophie einschließlich Alchemie: 64 Codices
Metaphysik: 15 Codices
Moralphilosophie (Ethik): 35 Codices
Medizin: 101 Codices
Zivilrecht: 7 Codices
Kirchenrecht: 16 Codices
Theologie: 212 Codices

Diese Fachgebiete entsprechen im Wesentlichen den im 15. Jahrhundert studierbaren Fächern (septem artes liberales mit Trivium und Quadrivium als Vorbereitung auf die Fächer Theologie, Jurisprudenz und Medizin) und spiegeln damit Amplonius’ Sammlungsinteressen als Doktor der Medizin, Professor, Arzt und Theologe (https://www.uni-erfurt.de/bibliothek/suchen-und-finden/handschriften-inkunabeln-alte-drucke/bibliotheca-amploniana/sammlung/amplonius-rating-de-berka).

Amplonius selbst hat auch nach 1412 weiterhin Bücher gesammelt (gest. 1435), und durch Zustiftungen der Stipendiaten des Collegiums wuchs der Bestand an Handschriften fast auf das Doppelte an. Es gingen aber im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Codices verloren oder gelangten auf unterschiedlichsten Wegen in anderes Eigentum (vgl. den Lesezeichen-Beitrag vom 21.02.2023: https://www2.uni-erfurt.de/bibliothek/blog/amploniana-handschrift-in-goettingen-wiedergefunden/). Eine genaue Bezifferung der Verluste oder gar eine genaue Rekonstruktion der amplonianischen Bestände in ihrer ursprünglichen Anzahl ist aktuell nicht möglich und wäre ein eigenes Forschungsprojekt. Heute enthält die Bibliotheca Amploniana insgesamt 979 Handschriftenbände sowie 1882 Inkunabeln und Drucke. Die Handschriften werden seit 2019 in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Projekt digitalisiert und tiefenerschlossen (https://www2.uni-erfurt.de/bibliothek/blog/neues-dfg-projekt-bibliotheca-amploniana-in-der-universitaetsbibliothek-erfurt/; https://www2.uni-erfurt.de/bibliothek/blog/blick-hinter-die-kulissen-tiefenerschliessung-in-der-sondersammlung/; https://www2.uni-erfurt.de/bibliothek/blog/dfg-foerdert-fortsetzung-der-digitalisierung-der-bibliotheca-amploniana/).

Dr. Katrin Ott

Amploniana-Handschrift in Göttingen wiedergefunden

„Die ,Bibliotheca Amploniana‘ ist die größte heute beinahe geschlossen erhaltene Handschriftensammlung eines spätmittelalterlichen Gelehrten weltweit und zählt zu den bedeutendsten Handschriftensammlungen Deutschlands.“[1]

Aus diesem vielzitierten Satz soll heute das Wort „beinahe“ näher beleuchtet und ein großartiger Fund in einen größeren Kontext eingeordnet werden.

Der Arzt und Gelehrte Amplonius Rating de Berka erstellte um 1410-1412 einen Katalog seiner bis dahin zusammengetragenen Schriften und übergab diese Sammlung 1412 an das von ihm in Erfurt gestiftete Collegium Porta Coeli. Da er verfügte, dass jeder Stipendiat nach Abschluss seines Studiums dem Collegium mindestens ein Buch zu überlassen habe, wuchs die Büchersammlung – später auch mit Drucken – immer weiter an.

Auf der anderen Seite gingen im Laufe der Jahrhunderte vielleicht sogar mehrere hundert Handschriften verloren[2] oder gelangten auf unterschiedlichsten Wegen in anderes Eigentum.

Diebstähle sind bereits aus dem 15. Jahrhundert bekannt, und auch in späteren Zeiten waren die Bände nicht immer genügend gesichert und beaufsichtigt.

Der Mainzer Kurfürst und Erzbischof Lothar Franz Graf Schönborn (1695-1725) bediente sich aus den Beständen für seine Privatsammlung.

Im 18. Jahrhundert muss leider Vernachlässigung im Spiel gewesen sein. 1713 beschrieb der Erfurter Chronist Johann Michael Weinrich (1683-1727) seine Beobachtungen: „und ob sie gleich feine, auch rare Codices MStos haben mag, so wird ihrer doch ja wohl übel gehütet […], daß auf manchem Buch der Staub zwey Finger dick ruhe und niemand wisse, welches das oberste oder unterste Theil der Bibliothec bedeute.“[3]

Und: „Nach Eingehen des Kollegiums fand man 45 Codices so verfault und vermodert vor, daß man sich dazu entschloß, sie zu vernichten.“[4]

Zwei nach Münster gelangte Bände verbrannten während des Zweiten Weltkriegs.
Eine größtenteils durch Brand zerstörte Handschrift befindet sich aktuell noch im Depositum, als welches die Bibliotheca Amploniana heute – unter optimalen klimatischen und sicherheitstechnischen Bedingungen – in der Universitätsbibliothek Erfurt aufbewahrt wird.

Dep. Erf., CA 4° 208, https://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/HSP000604D600000000

Ehemals amplonianische Handschriften finden sich heute in der Schlossbibliothek Pommersfelden (bei Bamberg), in den Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek in München, der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, der Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Forschungsbibliothek Gotha sowie der Universitätsbibliotheken Dresden und Göttingen.

Eine genaue Bezifferung der Verluste oder gar eine genaue Rekonstruktion der amplonianischen Bestände in ihrer ursprünglichen Anzahl wird wohl kaum möglich sein.

Umso erfreulicher ist es also, wenn durch die Forschung Handschriften aus der Bibliotheca Amploniana wiederentdeckt werden. Dies geschah kürzlich in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: https://sub.hypotheses.org/1172

Ein wissenschaftlicher Bearbeiter wurde zunächst durch den für viele Amploniana-Bände typischen Einband[5] auf die mögliche Herkunft aufmerksam und fand sogar einen eindeutigen Besitzeintrag:

Eintrag im vorderen Spiegel der Göttinger Handschrift Kodex 8° Cod. Ms. hist. nat. 75 Cim.: „porte celi Jn Erffordia“, s. https://sub.hypotheses.org/1172

So schließt sich eine weitere Lücke in der Erforschung der „entfremdeten“ Handschriften der Amploniana.

Ob es vielleicht sogar eines Tages möglich sein wird, die bisher bekannten erhaltenen Handschriften aus den verschiedenen Sammlungen virtuell zusammenzuführen?
Ein lohnendes Ziel wäre es jedenfalls.

Dr. Katrin Ott


Anmerkungen:

[1] Etwa: https://www.uni-erfurt.de/bibliothek/suchen-und-finden/handschriften-inkunabeln-alte-drucke/bibliotheca-amploniana/sammlung; https://de.wikipedia.org/wiki/Bibliotheca_Amploniana

[2] Johannes Kadenbach: 476. Thomas Bouillon: mindestens 257, vgl. https://kobra.uni-kassel.de/bitstream/handle/123456789/2017062852944/PfeilRatingDeBerka.pdf?sequence=1&isAllowed=y, S. 49 und ebd., Anm. 78).

[3] https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11253292?page=319, S. 297f.

[4] S. https://opac.uni-erfurt.de/DB=1/XMLPRS=N/PPN?PPN=186838085, S. 3.

[5] Vgl. etwa: https://dhb.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ufb_derivate_00015520/CA-2-00152_0001.tif (ähnliche Kette und Halbledereinband); https://https://dhb.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ufb_derivate_00014705/CA-2-00292_0001.tif (ähnlicher Halbledereinband; die Messingbänder fehlen); https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_u_00023504 (ähnliche Kette)

DFG fördert Fortsetzung der Digitalisierung der Bibliotheca Amploniana

In dem seit Oktober 2019 laufenden DFG-Projekt, „Digitalisierung und Tiefenerschließung von Handschriften der Bibliotheca Amploniana in der Universitätsbibliothek Erfurt“ sollten innerhalb von drei Jahren 317 der 977 Handschriften digitalisiert werden (s. Lesezeichen-Beitrag vom 18.06.2020: https://www2.uni-erfurt.de/bibliothek/blog/neues-dfg-projekt-bibliotheca-amploniana-in-der-universitaetsbibliothek-erfurt/).

Zu diesem Projekt gibt es zwei hervorragende Neuigkeiten:

Das Projektziel wurde nicht nur erreicht, sondern sogar übertroffen: Aktuell sind ca. 520 Handschriften der Bibliotheca Amploniana online: https://dhb.thulb.uni-jena.de/servlets/solr/dhb_restricted?qry=ArchFile_class_001%3Ac8166d86-1cec-4ad0-b67d-39023f1452e2&fq=hasImage%3A(%22false%22).

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft – das ist die zweite gute Nachricht – belohnt diese Erfolge mit der Bewilligung einer zweiten Projektphase!

Das ehrgeizige, aber unter Beibehaltung der aktuellen Leistung realistische Ziel ist es nun, bis Ende September 2025 alle Handschriften der Bibliotheca Amploniana zu digitalisieren.

Die IIIF-fähigen Digitalisate werden open access in der von der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB) Jena entwickelten Digitalen Historischen Bibliothek Erfurt/Gotha präsentiert. Interessierte aus aller Welt haben somit Zugang zu Digitalisaten in bester Qualität (400 bis 600 dpi). Einen regelmäßig aktuell gehaltenen Überblick über den Projektfortschritt bietet unsere Projektseite:
https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/einrichtung/bibliothek/Bestand_Sammlungen/PDF_Dokumente/umfang_digitalisierung.pdf

Dep. Erf., CA 2° 96, Blatt 7 r: https://dhb.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ufb_derivate_00020096/CA-2-00096_0007.tif

 

Dr. Katrin Ott

 

Öffentliche Podiumsdiskussion “Medizin im Mittelalter”

Seit Oktober 2019 werden die mittelalterlichen Handschriften der Bibliotheca Amploniana in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt digitalisiert und wissenschaftlich erschlossen (vgl. den Lesezeichen-Beitrag vom 18.06.2020: https://www2.uni-erfurt.de/bibliothek/blog/neues-dfg-projekt-bibliotheca-amploniana-in-der-universitaetsbibliothek-erfurt/).

Im Rahmen dieses Projektes findet am 20. und 21. Oktober 2022 ein internationaler Workshop unter dem Titel “Exploring Medical Manuscripts of the Bibliotheca Amploniana. Prospects of Research and Cataloguing” statt (s. https://www.uni-erfurt.de/universitaet/aktuelles/veranstaltungskalender/eventdetail/exploring-medical-manuscripts-of-the-bibliotheca-amploniana-prospects-of-research-and-cataloguing)

In diesem Zusammenhang laden wir alle Interessierten sehr herzlich zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion über “Medizin im Mittelalter” am 20. Oktober um 20 Uhr ins Coelicum, Domstraße 10 ein:

Bei „Medizin im Mittelalter“ denkt man an Hildegard von Bingen, an Heilkräuter und Klostermedizin. Wie vielfältig die Beschäftigung mit Heilkunde damals war, ob es „die Medizin des Mittelalters“ überhaupt gab und was uns die handgeschriebenen Bücher aus dieser Zeit dazu erzählen können, darüber diskutieren in lockerer Atmosphäre Iolanda Ventura, Expertin für lateinische medizinische Literatur des Mittelalters, und Bernhard Schnell, Experte für mittelalterliche Medizin. Es moderiert Prof. Dr. Sabine Schmolinsky (Universität Erfurt).

Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

Dr. Katrin Ott