Amploniana-Handschrift in Göttingen wiedergefunden

„Die ,Bibliotheca Amploniana‘ ist die größte heute beinahe geschlossen erhaltene Handschriftensammlung eines spätmittelalterlichen Gelehrten weltweit und zählt zu den bedeutendsten Handschriftensammlungen Deutschlands.“[1]

Aus diesem vielzitierten Satz soll heute das Wort „beinahe“ näher beleuchtet und ein großartiger Fund in einen größeren Kontext eingeordnet werden.

Der Arzt und Gelehrte Amplonius Rating de Berka erstellte um 1410-1412 einen Katalog seiner bis dahin zusammengetragenen Schriften und übergab diese Sammlung 1412 an das von ihm in Erfurt gestiftete Collegium Porta Coeli. Da er verfügte, dass jeder Stipendiat nach Abschluss seines Studiums dem Collegium mindestens ein Buch zu überlassen habe, wuchs die Büchersammlung – später auch mit Drucken – immer weiter an.

Auf der anderen Seite gingen im Laufe der Jahrhunderte vielleicht sogar mehrere hundert Handschriften verloren[2] oder gelangten auf unterschiedlichsten Wegen in anderes Eigentum.

Diebstähle sind bereits aus dem 15. Jahrhundert bekannt, und auch in späteren Zeiten waren die Bände nicht immer genügend gesichert und beaufsichtigt.

Der Mainzer Kurfürst und Erzbischof Lothar Franz Graf Schönborn (1695-1725) bediente sich aus den Beständen für seine Privatsammlung.

Im 18. Jahrhundert muss leider Vernachlässigung im Spiel gewesen sein. 1713 beschrieb der Erfurter Chronist Johann Michael Weinrich (1683-1727) seine Beobachtungen: „und ob sie gleich feine, auch rare Codices MStos haben mag, so wird ihrer doch ja wohl übel gehütet […], daß auf manchem Buch der Staub zwey Finger dick ruhe und niemand wisse, welches das oberste oder unterste Theil der Bibliothec bedeute.“[3]

Und: „Nach Eingehen des Kollegiums fand man 45 Codices so verfault und vermodert vor, daß man sich dazu entschloß, sie zu vernichten.“[4]

Zwei nach Münster gelangte Bände verbrannten während des Zweiten Weltkriegs.
Eine größtenteils durch Brand zerstörte Handschrift befindet sich aktuell noch im Depositum, als welches die Bibliotheca Amploniana heute – unter optimalen klimatischen und sicherheitstechnischen Bedingungen – in der Universitätsbibliothek Erfurt aufbewahrt wird.

Dep. Erf., CA 4° 208, https://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/HSP000604D600000000

Ehemals amplonianische Handschriften finden sich heute in der Schlossbibliothek Pommersfelden (bei Bamberg), in den Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek in München, der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, der Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Forschungsbibliothek Gotha sowie der Universitätsbibliotheken Dresden und Göttingen.

Eine genaue Bezifferung der Verluste oder gar eine genaue Rekonstruktion der amplonianischen Bestände in ihrer ursprünglichen Anzahl wird wohl kaum möglich sein.

Umso erfreulicher ist es also, wenn durch die Forschung Handschriften aus der Bibliotheca Amploniana wiederentdeckt werden. Dies geschah kürzlich in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: https://sub.hypotheses.org/1172

Ein wissenschaftlicher Bearbeiter wurde zunächst durch den für viele Amploniana-Bände typischen Einband[5] auf die mögliche Herkunft aufmerksam und fand sogar einen eindeutigen Besitzeintrag:

Eintrag im vorderen Spiegel der Göttinger Handschrift Kodex 8° Cod. Ms. hist. nat. 75 Cim.: „porte celi Jn Erffordia“, s. https://sub.hypotheses.org/1172

So schließt sich eine weitere Lücke in der Erforschung der „entfremdeten“ Handschriften der Amploniana.

Ob es vielleicht sogar eines Tages möglich sein wird, die bisher bekannten erhaltenen Handschriften aus den verschiedenen Sammlungen virtuell zusammenzuführen?
Ein lohnendes Ziel wäre es jedenfalls.

Dr. Katrin Ott


Anmerkungen:

[1] Etwa: https://www.uni-erfurt.de/bibliothek/suchen-und-finden/handschriften-inkunabeln-alte-drucke/bibliotheca-amploniana/sammlung; https://de.wikipedia.org/wiki/Bibliotheca_Amploniana

[2] Johannes Kadenbach: 476. Thomas Bouillon: mindestens 257, vgl. https://kobra.uni-kassel.de/bitstream/handle/123456789/2017062852944/PfeilRatingDeBerka.pdf?sequence=1&isAllowed=y, S. 49 und ebd., Anm. 78).

[3] https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11253292?page=319, S. 297f.

[4] S. https://opac.uni-erfurt.de/DB=1/XMLPRS=N/PPN?PPN=186838085, S. 3.

[5] Vgl. etwa: https://dhb.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ufb_derivate_00015520/CA-2-00152_0001.tif (ähnliche Kette und Halbledereinband); https://https://dhb.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ufb_derivate_00014705/CA-2-00292_0001.tif (ähnlicher Halbledereinband; die Messingbänder fehlen); https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_u_00023504 (ähnliche Kette)

DFG fördert Fortsetzung der Digitalisierung der Bibliotheca Amploniana

In dem seit Oktober 2019 laufenden DFG-Projekt, „Digitalisierung und Tiefenerschließung von Handschriften der Bibliotheca Amploniana in der Universitätsbibliothek Erfurt“ sollten innerhalb von drei Jahren 317 der 977 Handschriften digitalisiert werden (s. Lesezeichen-Beitrag vom 18.06.2020: https://www2.uni-erfurt.de/bibliothek/blog/neues-dfg-projekt-bibliotheca-amploniana-in-der-universitaetsbibliothek-erfurt/).

Zu diesem Projekt gibt es zwei hervorragende Neuigkeiten:

Das Projektziel wurde nicht nur erreicht, sondern sogar übertroffen: Aktuell sind ca. 520 Handschriften der Bibliotheca Amploniana online: https://dhb.thulb.uni-jena.de/servlets/solr/dhb_restricted?qry=ArchFile_class_001%3Ac8166d86-1cec-4ad0-b67d-39023f1452e2&fq=hasImage%3A(%22false%22).

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft – das ist die zweite gute Nachricht – belohnt diese Erfolge mit der Bewilligung einer zweiten Projektphase!

Das ehrgeizige, aber unter Beibehaltung der aktuellen Leistung realistische Ziel ist es nun, bis Ende September 2025 alle Handschriften der Bibliotheca Amploniana zu digitalisieren.

Die IIIF-fähigen Digitalisate werden open access in der von der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB) Jena entwickelten Digitalen Historischen Bibliothek Erfurt/Gotha präsentiert. Interessierte aus aller Welt haben somit Zugang zu Digitalisaten in bester Qualität (400 bis 600 dpi). Einen regelmäßig aktuell gehaltenen Überblick über den Projektfortschritt bietet unsere Projektseite:
https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/einrichtung/bibliothek/Bestand_Sammlungen/PDF_Dokumente/umfang_digitalisierung.pdf

Dep. Erf., CA 2° 96, Blatt 7 r: https://dhb.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ufb_derivate_00020096/CA-2-00096_0007.tif

 

Dr. Katrin Ott

 

Öffentliche Podiumsdiskussion „Medizin im Mittelalter“

Seit Oktober 2019 werden die mittelalterlichen Handschriften der Bibliotheca Amploniana in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt digitalisiert und wissenschaftlich erschlossen (vgl. den Lesezeichen-Beitrag vom 18.06.2020: https://www2.uni-erfurt.de/bibliothek/blog/neues-dfg-projekt-bibliotheca-amploniana-in-der-universitaetsbibliothek-erfurt/).

Im Rahmen dieses Projektes findet am 20. und 21. Oktober 2022 ein internationaler Workshop unter dem Titel “Exploring Medical Manuscripts of the Bibliotheca Amploniana. Prospects of Research and Cataloguing” statt (s. https://www.uni-erfurt.de/universitaet/aktuelles/veranstaltungskalender/eventdetail/exploring-medical-manuscripts-of-the-bibliotheca-amploniana-prospects-of-research-and-cataloguing)

In diesem Zusammenhang laden wir alle Interessierten sehr herzlich zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion über „Medizin im Mittelalter“ am 20. Oktober um 20 Uhr ins Coelicum, Domstraße 10 ein:

Bei „Medizin im Mittelalter“ denkt man an Hildegard von Bingen, an Heilkräuter und Klostermedizin. Wie vielfältig die Beschäftigung mit Heilkunde damals war, ob es „die Medizin des Mittelalters“ überhaupt gab und was uns die handgeschriebenen Bücher aus dieser Zeit dazu erzählen können, darüber diskutieren in lockerer Atmosphäre Iolanda Ventura, Expertin für lateinische medizinische Literatur des Mittelalters, und Bernhard Schnell, Experte für mittelalterliche Medizin. Es moderiert Prof. Dr. Sabine Schmolinsky (Universität Erfurt).

Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

Dr. Katrin Ott

 

Amplonius – Ein strategischer Büchersammler: ein Leben lang?

Bereits in den letzten Blogbeiträgen habe ich über das Articella-Konvolut und seine Bedeutung für die medizinische Lehre berichtet. Heute möchte ich den Blick auf eine andere zentrale Schrift der medizinischen Lehre an mittelalterlichen Universitäten lenken, die uns gleichzeitig einen wichtigen Einblick in die Sammlungsgeschichte der Amploniana bietet: Abū Bakr Muḥammad bin Zakaryā ar-Rāzī (kurz: Rasis) war ein Arzt und Krankenhausleiter aus Rey, einer bedeutenden Stadt der Antike und des frühen Mittelalters nahe Teheran. Er tat sich mit knapp 150 Schriften auch als produktiver Wissenschaftler und Philosoph hervor. Für das europäische Mittelalter war besonders der Liber medicinalis ad Almansorem von großer Bedeutung, da er in diesem Werk das umfangreiche Corpus des antiken Arztes Galen strukturierte und daraus einen Lehrplan für das Studium der Medizin erschuf. Dieses Werk fand schließlich durch die lateinische Übersetzung des Gerhard von Cremona Einzug in den medizinischen Lehrplan der europäischen Universitäten.

Abb. 1: CA 2° 260, fol. 4r

In der Amploniana befinden sich insgesamt sieben Handschriften mit diesem Text. Mit Hilfe des von Amplonius eigenhändig angefertigten Katalogs zur ersten Tranche seiner Stiftung wissen wir, dass er zunächst vier Bände mit dem Liber medicinalis des Rasis gestiftet hat. Hierbei handelt es sich um die Handschriften CA 2° 265, CA 2° 291, CA 4° 214, CA 4° 230, die im Amplonius-Katalog mit den Nummern 36, 58, 52 und 66 in der Rubrik De medicine verzeichnet waren. Als sammlungsgeschichtlich besonders interessant haben sich jedoch zwei der Rasis-Handschriften herausgestellt, die erst nach der Stiftung des Amplonius Eingang in das Collegium Porta Coeli fanden. Hierbei handelt es sich um CA 2° 244 und CA 2° 260, die mit den Nummern 132 und 124 De medicine in den Bestand der Amploniana kamen. Sie gehören also zu den Nachstiftungen, bei denen bis dato noch nicht geklärt ist, auf welchem Weg und vor allem durch wen sie in die Sammlung gelangten.

Abb. 2: CA 2° 244, fol. 3r
Abb. 4: CA 2° 260, fol. 201r
Abb. 3: CA 2° 244, fol. 27r

Hier konnten jedoch im Zuge des laufenden Projekts wichtige Erkenntnisse gesammelt werden, die sich aus der Objektgeschichte der beiden Handschriften ergeben. So wurden beide Handschriften durch Schriftbefund nach Montpellier in die 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts verortet. Zwar lassen sich bei den Schreibhänden keine Gemeinsamkeiten erkennen, doch weisen beide als Textzeugen eine Besonderheit auf: Wie Danielle Jacquart nachgewiesen hat¹, handelt es sich hier bei beiden Texten nicht um die Übersetzung durch Gerhard von Cremona, sondern um die eines unbekannten Übersetzers, welche offensichtlich in Montpellier in jener Zeit im Umlauf war. Neben diesen überlieferungsgeschichtlichen Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch objektgeschichtliche Gemeinsamkeiten, die auf das Ende des 14. Jahrhunderts weisen. In dieser Zeit müssen sich beide Bände bereits im deutschen Raum befunden haben. Denn in jener Zeit wurden beide Handschriften von der gleichen, nordalpinen Hand mit Blick auf die Nutzerfreundlichkeit überarbeitet. Hierfür wurde nicht nur der Text mit Überschriften und Rubriken versehen, sondern auch Verzeichnisse angelegt, um die Handschriften besser nutzen zu können (Vgl. Abb. 1-4). Da beides von gleicher Hand in gleicher Art durchgeführt wurde, dürfte es sich hier um eine bewusste Überarbeitung für eine weitere Nutzung außerhalb des Privatbesitzes handeln.

Es wäre natürlich naheliegend, diese Überarbeitungen Amplonius selbst für eine Nachstiftung zuzuschreiben, da sie noch in einem Segment vorkommen, in dem sich überwiegend Nachstiftungen des Amplonius befinden. Doch wurden die Überarbeitungen von einer geübten Hand im vierten Viertel des 14. Jahrhunderts angefertigt, sodass Amplonius hier wohl nicht in Frage kommt. Es muss also ein anderer Vorbesitzer gewesen sein, der diese Überarbeitungen für eine Nutzung in einer anderen Institution überarbeitet hat. Eine solche Institution könnte die Stiftskirche St. Aposteln in Köln gewesen sein. Denn auf diese weist das Einbandfragment aus der Handschrift CA 2° 244 hin, dass einem gewissen Heinrich von Neumagen Pfründe für eine Lehrtätigkeit an der dortigen Klosterschule in Aussicht stellte. Da Amplonius aber selbst ab 1400 dort als Kanoniker wirkte, ist es zumindest möglich, dass er diese besonders benutzerfreundlichen Rasisbände erwarb, um sie später als Nachstiftung dem Collegium Porta Coeli zur Verfügung zu stellen. In der Sammlung selbst hatten dann auch beide Bände eine zentrale Bedeutung, da sie im Verlauf des 15. Jahrhunderts mit einer Kette und Buckeln versehen (vgl. Abb. 5 und 6) und den Studenten als zentrale Lernwerke an Pulten dargeboten wurden.

Abb. 5: CA 2° 260, hinterer Buchdeckel mit Kette, Schließe und Buckeln
Abb. 6: CA 2° 244, hinterer Buchdeckel mit gleicher Kette, gleicher Schließe und gleichen Buckeln

Doch was würde das für die Sammlungsgeschichte bedeuten? Die vergleichsweise hohen Nummern haben bisher dazu geführt, diese Bände nicht als Nachstiftung des Amplonius einzuordnen. Durch die Hinweise jedoch muss zumindest die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass auch im Segment 100-150 De medicine noch zahlreiche Bände zu finden sind, die Amplonius nicht nur wegen ihres Inhalts, sondern auch wegen ihrer Benutzerfreundlichkeit für seine Stiftung erwarb und diese Bände nachstiftete.

¹ Vgl. Danielle Jacquart, Note sur la traduction latine du Kitab al-Mansaura de Rhazès, Revue d’histoire des textes, 24, 1994, p. 359-374.

Sven-Philipp Brandt

 

 

„Neuigkeiten über ziemlich alte Bücher. Erkundungen und Entdeckungen in der Bibliotheca Amploniana“

In der Reihe „Amploniana Bildungsgeschichten“ der Universität Erfurt findet am Mittwoch, 4. Mai, ein weiterer Vortrag statt. Dr. Marek Wejwoda spricht darin über „Neuigkeiten über ziemlich alte Bücher. Erkundungen und Entdeckungen in der Bibliotheca Amploniana“. Die öffentliche Veranstaltung beginnt um 18.30 Uhr in der Bibliothek am Domplatz in Erfurt.

Die in der Universitätsbibliothek Erfurt bewahrte „Bibliotheca Amploniana“ ist ein Superlativ der Bildungsgeschichte des Mittelalters. Die 633 Bücher zu allen Wissensgebieten der Zeit, die Amplonius Rating aus Rheinberg gesammelt und 1412 dem Erfurter Kolleg zur Himmelspforte geschenkt hat, bilden die größte geschlossen erhaltene private Büchersammlung des Mittelalters überhaupt. Die Amploniana gilt deshalb zu Recht als einzigartiger Schatz. Wenn man genauer wissen will, was dieser Schatz enthält und was er uns über Bildung und Wissenskultur des Mittelalters sagen kann, ist dieser Superlativ allerdings auch ein Problem. Die mit der Hand geschriebenen Bücher mit lateinischen Texten sind ein sprödes und schwieriges Material. Jedes Stück ist ein Unikat mit zahlreichen Spuren einer individuellen Geschichte, die aufwändig rekonstruiert werden muss, und schon ihre schiere Anzahl erschwert deswegen die Erschließung. Wilhelm Schum hat sich dieser Herausforderung im 19. Jahrhundert gestellt und 1887 einen Katalog mit Handschriftenbeschreibungen veröffentlicht, der für seine Zeit ein Meisterwerk war und bis heute maßgeblich ist.

Mit den Methoden und Möglichkeiten der modernen Handschriftenforschung stellt man aber auch schnell fest, dass die Amploniana eine noch weit ertragreichere Fundgrube ist, als Schums Katalog ahnen lässt. Hier setzt das derzeit laufende DFG-Projekt zur Digitalisierung und Tiefenerschließung der medizinischen Handschriften der Amploniana an. Wie Handschriftenerschließer heute arbeiten, wie man mittelalterliche Handschriften zum Sprechen bringt, was sie uns erzählen können und was man in der „Bibliotheca Amploniana“ noch alles entdecken kann – darüber informiert der Vortrag von Projektmitarbeiter Dr. Marek Wejwoda.

Die Anmeldung zur Veranstaltung ist per E-Mail an veranstaltungen.bibliothek@erfurt.de oder telefonisch unter 0361 655-1590 möglich.

Weitere Informationen:
Veranstaltungsflyer (pdf)
Bibliotheca Amploniana

Der Buchschmuck in den Articella-Handschriften

Nachdem ich in den letzten beiden Blogbeiträgen einen Einblick in die Geschichte des Articella-Konvoluts gegeben habe, möchte ich noch etwas genauer auf den Buchschmuck innerhalb dieser kleinen Lehrbuchsammlung eingehen.

Der Buchschmuck hatte in mittelalterlichen Kodizes mehrere Funktionen. Einerseits konnte er die Repräsentativität des Bandes erhöhen, wenn er besonders elaboriert war. Diese kunstvollen Bilder wurden dann auch von Meistern angefertigt, die sich ausschließlich auf die Buchmalerei spezialisiert hatten. Andererseits waren sie aber auch für die spätere Nutzung des Bandes hilfreich, weil sie eine wichtige Orientierungshilfe bei der Nutzung der Handschriften waren. Hierzu wurde in der Regel der erste Buchstabe eines Textes, die Initiale, besonders aufwändig verziert. Doch auch untergeordnete Texteinheiten wie Kapitel- oder Satzanfänge wurden häufig für eine bessere Orientierung verziert – wenn auch deutlich schlichter mit Fleuronné, Lombarden oder einfachen Buchstabenstrichelungen (Abb. 1).

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Abb. 1: CA 2° 246, 1r. Der lehrende Hippokrates mit einem Schüler. Zudem zur weiteren Textgliederung unten links eine weitere Fleuronné-Initiale, oben rechts ein Alinea-Zeichen und zahlreiche Buchstabenstrichelungen an den Satzanfängen.

 

Für Handschriften aus dem universitären Kontext, die viel genutzt und häufig weitergereicht wurden, verzichtete man jedoch meist auf die kostspielige Buchmalerei. Dennoch befinden sich in den Articella-Beständen der Amploniana einige Exemplare mit sehr hochwertigem Buchschmuck. Ein Beispiel ist hierfür die CA 2°246. Bei dieser Handschrift findet sich an jedem Textbeginn eine besonders kunstvoll verzierte Initiale, in der ein Arzt bei einer Tätigkeit dargestellt wird. Solche Initialen nennt man in der Fachsprache historisierte Initialen, da sie meist konkrete Personen darstellen.

In unserem Fall ist vermutlich Hippokrates als Autor der Texte abgebildet, der im ersten Beispiel als Lehrender mit einem Schüler an einem Tisch mit Buch dargestellt wird (Abb. 1). Die ganze Szene ist innerhalb des Buchstabens P abgebildet, der sich auf einem blauen Feld mit weißem Filigran befindet. Hiervon gehen dann mit Dornen und Perlen verzierte Akanthusranken in verschiedenen Deckfarben ab. Abgerundet wird das ganze unterhalb des Textes mit einem Medaillon, das vermutlich die Personifikation der Medizin darstellen soll (Abb. 2).

Abb. 2: CA 2° 246, 1r. Vermutlich die Personifikation der Medizin (evtl. Hygieia), dargestellt mit einer Schriftrolle.

 

Auf der zweiten historisierten Initiale (Abb. 3) ist Hippokrates wiederum als Arzt bei der Begutachtung eines Urinschauglases dargestellt, womit die Diagnostik eines Arztes veranschaulicht wird. Auch dieses Bild ist innerhalb eines Buchstabens dargestellt, in diesem Fall dem U bzw. V von videtur. Und auch hier gehen von der Initiale in gleichem Stil gemalte Akanthusranken in Deckfarben ab, die damit beim Blättern den Textbeginn des neuen Textes ins Auge springen lassen.

Abb. 3: CA 2° 246, 53r. Initiales V für videtur, das hier aber eigentlich ein U ist, da im Lateinischen ursprünglich nicht zwischen U und V unterschieden wurde. Deshalb findet sich auch auf antiken Inschriften bspw. SENATVS POPVLVSQVE ROMANVS.

 

Bemerkenswert ist auch die historisierte Initiale des dritten Textes (Abb. 4). Hier musste aufgrund des Textbeginns das I von illi zu einer Initiale gestaltet werden. Da die historisierten Initialen aber innerhalb des Buchstabenkörpers gemalt wurden, war dies für den Buchmaler eine größere Herausforderung. Da er zudem Hippokrates als Arzt bei der Therapie darstellen sollte, der einen Kranken mit einer Medizin versorgt, musste er in diesem Fall den Buchstabenkörper auf beiden Seiten etwas verlassen, um die gewünschte Szene darstellen zu können.

Abb. 4: CA 2° 246, 87r. Hippokrates beim Verabreichen einer Medizin

 

Die Buchmalerei ist aber nicht nur schön anzusehen, sondern gibt auch den Handschriftenbeschreiber*innen wichtige Hinweise zur Lokalisierung und Datierung der Handschrift. Da die zeitgenössischen Buchmaler natürlich nicht wussten, wie der ‚alte Grieche‘ Hippokrates gekleidet war, malten Sie ihn in der lokalen zeitgenössischen Tracht. Diese lässt sich den wohlhabenden Bürgern Venedigs des 14. Jahrhunderts zuordnen, da hier die typische Kopfbedeckung des Stadtadels, eine turbanartige Haube (Capucci) dargestellt ist, die auf einer weißen Leinenhaube getragen wurde (vgl. Leventon, Kostüme Weltweit, 2009, S. 81f.).

Die kombinierte Analyse von Schrift, Inhalt und Buchschmuck weißt daher auf Bologna oder Padua als Ursprungsort hin, da sich dort die großen medizinischen Fakultäten der Region befanden. Allerdings deutet der elaborierte Buchschmuck dieser Handschrift sowie der Umstand, dass hier lediglich die drei großen Articella-Texte überliefert sind, darauf hin, dass es sich bei dieser Handschrift um einen repräsentativen Band handelt, den sich entweder ein sehr wohlhabender Student für sein Studium anfertigen ließ oder ein fertig ausgebildeter Arzt. Denn die drei Initialen bilden die drei zentralen Aufgaben des Arztes jener Zeit ab, nämlich die Lehre, die Diagnose und die Therapie.

Sven-Philipp Brandt