Amplonius – Ein strategischer Büchersammler: ein Leben lang?

Bereits in den letzten Blogbeiträgen habe ich über das Articella-Konvolut und seine Bedeutung für die medizinische Lehre berichtet. Heute möchte ich den Blick auf eine andere zentrale Schrift der medizinischen Lehre an mittelalterlichen Universitäten lenken, die uns gleichzeitig einen wichtigen Einblick in die Sammlungsgeschichte der Amploniana bietet: Abū Bakr Muḥammad bin Zakaryā ar-Rāzī (kurz: Rasis) war ein Arzt und Krankenhausleiter aus Rey, einer bedeutenden Stadt der Antike und des frühen Mittelalters nahe Teheran. Er tat sich mit knapp 150 Schriften auch als produktiver Wissenschaftler und Philosoph hervor. Für das europäische Mittelalter war besonders der Liber medicinalis ad Almansorem von großer Bedeutung, da er in diesem Werk das umfangreiche Corpus des antiken Arztes Galen strukturierte und daraus einen Lehrplan für das Studium der Medizin erschuf. Dieses Werk fand schließlich durch die lateinische Übersetzung des Gerhard von Cremona Einzug in den medizinischen Lehrplan der europäischen Universitäten.

Abb. 1: CA 2° 260, fol. 4r

In der Amploniana befinden sich insgesamt sieben Handschriften mit diesem Text. Mit Hilfe des von Amplonius eigenhändig angefertigten Katalogs zur ersten Tranche seiner Stiftung wissen wir, dass er zunächst vier Bände mit dem Liber medicinalis des Rasis gestiftet hat. Hierbei handelt es sich um die Handschriften CA 2° 265, CA 2° 291, CA 4° 214, CA 4° 230, die im Amplonius-Katalog mit den Nummern 36, 58, 52 und 66 in der Rubrik De medicine verzeichnet waren. Als sammlungsgeschichtlich besonders interessant haben sich jedoch zwei der Rasis-Handschriften herausgestellt, die erst nach der Stiftung des Amplonius Eingang in das Collegium Porta Coeli fanden. Hierbei handelt es sich um CA 2° 244 und CA 2° 260, die mit den Nummern 132 und 124 De medicine in den Bestand der Amploniana kamen. Sie gehören also zu den Nachstiftungen, bei denen bis dato noch nicht geklärt ist, auf welchem Weg und vor allem durch wen sie in die Sammlung gelangten.

Abb. 2: CA 2° 244, fol. 3r
Abb. 4: CA 2° 260, fol. 201r
Abb. 3: CA 2° 244, fol. 27r

Hier konnten jedoch im Zuge des laufenden Projekts wichtige Erkenntnisse gesammelt werden, die sich aus der Objektgeschichte der beiden Handschriften ergeben. So wurden beide Handschriften durch Schriftbefund nach Montpellier in die 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts verortet. Zwar lassen sich bei den Schreibhänden keine Gemeinsamkeiten erkennen, doch weisen beide als Textzeugen eine Besonderheit auf: Wie Danielle Jacquart nachgewiesen hat¹, handelt es sich hier bei beiden Texten nicht um die Übersetzung durch Gerhard von Cremona, sondern um die eines unbekannten Übersetzers, welche offensichtlich in Montpellier in jener Zeit im Umlauf war. Neben diesen überlieferungsgeschichtlichen Gemeinsamkeiten gibt es jedoch auch objektgeschichtliche Gemeinsamkeiten, die auf das Ende des 14. Jahrhunderts weisen. In dieser Zeit müssen sich beide Bände bereits im deutschen Raum befunden haben. Denn in jener Zeit wurden beide Handschriften von der gleichen, nordalpinen Hand mit Blick auf die Nutzerfreundlichkeit überarbeitet. Hierfür wurde nicht nur der Text mit Überschriften und Rubriken versehen, sondern auch Verzeichnisse angelegt, um die Handschriften besser nutzen zu können (Vgl. Abb. 1-4). Da beides von gleicher Hand in gleicher Art durchgeführt wurde, dürfte es sich hier um eine bewusste Überarbeitung für eine weitere Nutzung außerhalb des Privatbesitzes handeln.

Es wäre natürlich naheliegend, diese Überarbeitungen Amplonius selbst für eine Nachstiftung zuzuschreiben, da sie noch in einem Segment vorkommen, in dem sich überwiegend Nachstiftungen des Amplonius befinden. Doch wurden die Überarbeitungen von einer geübten Hand im vierten Viertel des 14. Jahrhunderts angefertigt, sodass Amplonius hier wohl nicht in Frage kommt. Es muss also ein anderer Vorbesitzer gewesen sein, der diese Überarbeitungen für eine Nutzung in einer anderen Institution überarbeitet hat. Eine solche Institution könnte die Stiftskirche St. Aposteln in Köln gewesen sein. Denn auf diese weist das Einbandfragment aus der Handschrift CA 2° 244 hin, dass einem gewissen Heinrich von Neumagen Pfründe für eine Lehrtätigkeit an der dortigen Klosterschule in Aussicht stellte. Da Amplonius aber selbst ab 1400 dort als Kanoniker wirkte, ist es zumindest möglich, dass er diese besonders benutzerfreundlichen Rasisbände erwarb, um sie später als Nachstiftung dem Collegium Porta Coeli zur Verfügung zu stellen. In der Sammlung selbst hatten dann auch beide Bände eine zentrale Bedeutung, da sie im Verlauf des 15. Jahrhunderts mit einer Kette und Buckeln versehen (vgl. Abb. 5 und 6) und den Studenten als zentrale Lernwerke an Pulten dargeboten wurden.

Abb. 5: CA 2° 260, hinterer Buchdeckel mit Kette, Schließe und Buckeln
Abb. 6: CA 2° 244, hinterer Buchdeckel mit gleicher Kette, gleicher Schließe und gleichen Buckeln

Doch was würde das für die Sammlungsgeschichte bedeuten? Die vergleichsweise hohen Nummern haben bisher dazu geführt, diese Bände nicht als Nachstiftung des Amplonius einzuordnen. Durch die Hinweise jedoch muss zumindest die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass auch im Segment 100-150 De medicine noch zahlreiche Bände zu finden sind, die Amplonius nicht nur wegen ihres Inhalts, sondern auch wegen ihrer Benutzerfreundlichkeit für seine Stiftung erwarb und diese Bände nachstiftete.

¹ Vgl. Danielle Jacquart, Note sur la traduction latine du Kitab al-Mansaura de Rhazès, Revue d’histoire des textes, 24, 1994, p. 359-374.

Sven-Philipp Brandt

 

 

Von dicken Brummern und Zettelwirtschaft

Wenn Handschriften, Inkunabeln bzw. Alte Drucke (bis einschließlich 1850) in Bibliotheken, Archiven oder Antiquariaten aufbewahrt und für Nutzer/Besucher erschlossen bzw. für Käufer beschrieben werden, ist ein wichtiges Merkmal der äußeren Beschreibung die Größe des vorliegenden Bandes.
So ergibt sich das sogenannte bibliografische Format durch die Faltung des Papierbogens, womit kein genaues Format definiert wird, sondern die Teilungsverhältnisse des Bogens angegeben werden. Einfach gesagt: wie oft wurde der Papierbogen gefaltet und wie viele Blätter liegen dann vor.
Im Bibliothekswesen werden oft die Formate 2° (Folio), 4° (Quart), 8° (Oktav) und 12° (Duodez) bei Alten Drucken zur Angabe des Formats benutzt. Folio bedeutet: der Papierbogen wird 1 Mal gefaltet und ergibt 2 Blätter, bei Quart wurde der Papierbogen 2 Mal gefaltet und ergibt 4 Blätter usw.

Auch der Bestand an Alten Drucken und Handschriften z. B. aus der Bibliotheca Amploniana wurde u.a. auf diese Weise erschlossen (Bestandteil der Signatur) und platzsparend aufgestellt.

So kommt es, dass es neben ausgesprochen großen (und schweren) Bänden im Sondermagazin der UB Erfurt auch Winzlinge oder aus einem Blatt bestehende Einblattdrucke (bspw. Flugschriften oder Gelegenheitsschriften) aufbewahrt werden. Im Bereich der Inkunabeln und Drucke gibt es sogar zahlreiche Bände mit dem Format gr2° (siehe Abbildung 2).

Unsere größte Bestandsgruppe sind die Oktavbände, die ein gängiges und bequem zu lesendes Format haben – was schon die Buchdrucker und -binder vergangener Zeiten durchaus im Blick hatten.
Andrea Langner

Abbildung 1: UB Erfurt, Dep. Erf., 13-Tp. 4° 1660 (7)
Andächtiges Gebett zu der Gnaden-reichen Jungfrau Maria Zell.
Druck von ca. 1720. Der Erscheinungsort ist  nicht bekannt. Die Illustration ist ein Holzschnitt, das Werk besteht aus nur einem Bogen mit der Größe ca. 10 x 17,5 cm

Abbildung 2: UB Erfurt, Dep. Erf., I. gr2° 315 (Speculum naturale, Straßburg , nicht nach 1476) und 13-A. 8° 231g (Dictionnaire Abrégé De La Fable …, Paris 1766)

„Neuigkeiten über ziemlich alte Bücher. Erkundungen und Entdeckungen in der Bibliotheca Amploniana“

In der Reihe „Amploniana Bildungsgeschichten“ der Universität Erfurt findet am Mittwoch, 4. Mai, ein weiterer Vortrag statt. Dr. Marek Wejwoda spricht darin über „Neuigkeiten über ziemlich alte Bücher. Erkundungen und Entdeckungen in der Bibliotheca Amploniana“. Die öffentliche Veranstaltung beginnt um 18.30 Uhr in der Bibliothek am Domplatz in Erfurt.

Die in der Universitätsbibliothek Erfurt bewahrte „Bibliotheca Amploniana“ ist ein Superlativ der Bildungsgeschichte des Mittelalters. Die 633 Bücher zu allen Wissensgebieten der Zeit, die Amplonius Rating aus Rheinberg gesammelt und 1412 dem Erfurter Kolleg zur Himmelspforte geschenkt hat, bilden die größte geschlossen erhaltene private Büchersammlung des Mittelalters überhaupt. Die Amploniana gilt deshalb zu Recht als einzigartiger Schatz. Wenn man genauer wissen will, was dieser Schatz enthält und was er uns über Bildung und Wissenskultur des Mittelalters sagen kann, ist dieser Superlativ allerdings auch ein Problem. Die mit der Hand geschriebenen Bücher mit lateinischen Texten sind ein sprödes und schwieriges Material. Jedes Stück ist ein Unikat mit zahlreichen Spuren einer individuellen Geschichte, die aufwändig rekonstruiert werden muss, und schon ihre schiere Anzahl erschwert deswegen die Erschließung. Wilhelm Schum hat sich dieser Herausforderung im 19. Jahrhundert gestellt und 1887 einen Katalog mit Handschriftenbeschreibungen veröffentlicht, der für seine Zeit ein Meisterwerk war und bis heute maßgeblich ist.

Mit den Methoden und Möglichkeiten der modernen Handschriftenforschung stellt man aber auch schnell fest, dass die Amploniana eine noch weit ertragreichere Fundgrube ist, als Schums Katalog ahnen lässt. Hier setzt das derzeit laufende DFG-Projekt zur Digitalisierung und Tiefenerschließung der medizinischen Handschriften der Amploniana an. Wie Handschriftenerschließer heute arbeiten, wie man mittelalterliche Handschriften zum Sprechen bringt, was sie uns erzählen können und was man in der „Bibliotheca Amploniana“ noch alles entdecken kann – darüber informiert der Vortrag von Projektmitarbeiter Dr. Marek Wejwoda.

Die Anmeldung zur Veranstaltung ist per E-Mail an veranstaltungen.bibliothek@erfurt.de oder telefonisch unter 0361 655-1590 möglich.

Weitere Informationen:
Veranstaltungsflyer (pdf)
Bibliotheca Amploniana

Der Buchschmuck in den Articella-Handschriften

Nachdem ich in den letzten beiden Blogbeiträgen einen Einblick in die Geschichte des Articella-Konvoluts gegeben habe, möchte ich noch etwas genauer auf den Buchschmuck innerhalb dieser kleinen Lehrbuchsammlung eingehen.

Der Buchschmuck hatte in mittelalterlichen Kodizes mehrere Funktionen. Einerseits konnte er die Repräsentativität des Bandes erhöhen, wenn er besonders elaboriert war. Diese kunstvollen Bilder wurden dann auch von Meistern angefertigt, die sich ausschließlich auf die Buchmalerei spezialisiert hatten. Andererseits waren sie aber auch für die spätere Nutzung des Bandes hilfreich, weil sie eine wichtige Orientierungshilfe bei der Nutzung der Handschriften waren. Hierzu wurde in der Regel der erste Buchstabe eines Textes, die Initiale, besonders aufwändig verziert. Doch auch untergeordnete Texteinheiten wie Kapitel- oder Satzanfänge wurden häufig für eine bessere Orientierung verziert – wenn auch deutlich schlichter mit Fleuronné, Lombarden oder einfachen Buchstabenstrichelungen (Abb. 1).

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Abb. 1: CA 2° 246, 1r. Der lehrende Hippokrates mit einem Schüler. Zudem zur weiteren Textgliederung unten links eine weitere Fleuronné-Initiale, oben rechts ein Alinea-Zeichen und zahlreiche Buchstabenstrichelungen an den Satzanfängen.

 

Für Handschriften aus dem universitären Kontext, die viel genutzt und häufig weitergereicht wurden, verzichtete man jedoch meist auf die kostspielige Buchmalerei. Dennoch befinden sich in den Articella-Beständen der Amploniana einige Exemplare mit sehr hochwertigem Buchschmuck. Ein Beispiel ist hierfür die CA 2°246. Bei dieser Handschrift findet sich an jedem Textbeginn eine besonders kunstvoll verzierte Initiale, in der ein Arzt bei einer Tätigkeit dargestellt wird. Solche Initialen nennt man in der Fachsprache historisierte Initialen, da sie meist konkrete Personen darstellen.

In unserem Fall ist vermutlich Hippokrates als Autor der Texte abgebildet, der im ersten Beispiel als Lehrender mit einem Schüler an einem Tisch mit Buch dargestellt wird (Abb. 1). Die ganze Szene ist innerhalb des Buchstabens P abgebildet, der sich auf einem blauen Feld mit weißem Filigran befindet. Hiervon gehen dann mit Dornen und Perlen verzierte Akanthusranken in verschiedenen Deckfarben ab. Abgerundet wird das ganze unterhalb des Textes mit einem Medaillon, das vermutlich die Personifikation der Medizin darstellen soll (Abb. 2).

Abb. 2: CA 2° 246, 1r. Vermutlich die Personifikation der Medizin (evtl. Hygieia), dargestellt mit einer Schriftrolle.

 

Auf der zweiten historisierten Initiale (Abb. 3) ist Hippokrates wiederum als Arzt bei der Begutachtung eines Urinschauglases dargestellt, womit die Diagnostik eines Arztes veranschaulicht wird. Auch dieses Bild ist innerhalb eines Buchstabens dargestellt, in diesem Fall dem U bzw. V von videtur. Und auch hier gehen von der Initiale in gleichem Stil gemalte Akanthusranken in Deckfarben ab, die damit beim Blättern den Textbeginn des neuen Textes ins Auge springen lassen.

Abb. 3: CA 2° 246, 53r. Initiales V für videtur, das hier aber eigentlich ein U ist, da im Lateinischen ursprünglich nicht zwischen U und V unterschieden wurde. Deshalb findet sich auch auf antiken Inschriften bspw. SENATVS POPVLVSQVE ROMANVS.

 

Bemerkenswert ist auch die historisierte Initiale des dritten Textes (Abb. 4). Hier musste aufgrund des Textbeginns das I von illi zu einer Initiale gestaltet werden. Da die historisierten Initialen aber innerhalb des Buchstabenkörpers gemalt wurden, war dies für den Buchmaler eine größere Herausforderung. Da er zudem Hippokrates als Arzt bei der Therapie darstellen sollte, der einen Kranken mit einer Medizin versorgt, musste er in diesem Fall den Buchstabenkörper auf beiden Seiten etwas verlassen, um die gewünschte Szene darstellen zu können.

Abb. 4: CA 2° 246, 87r. Hippokrates beim Verabreichen einer Medizin

 

Die Buchmalerei ist aber nicht nur schön anzusehen, sondern gibt auch den Handschriftenbeschreiber*innen wichtige Hinweise zur Lokalisierung und Datierung der Handschrift. Da die zeitgenössischen Buchmaler natürlich nicht wussten, wie der ‚alte Grieche‘ Hippokrates gekleidet war, malten Sie ihn in der lokalen zeitgenössischen Tracht. Diese lässt sich den wohlhabenden Bürgern Venedigs des 14. Jahrhunderts zuordnen, da hier die typische Kopfbedeckung des Stadtadels, eine turbanartige Haube (Capucci) dargestellt ist, die auf einer weißen Leinenhaube getragen wurde (vgl. Leventon, Kostüme Weltweit, 2009, S. 81f.).

Die kombinierte Analyse von Schrift, Inhalt und Buchschmuck weißt daher auf Bologna oder Padua als Ursprungsort hin, da sich dort die großen medizinischen Fakultäten der Region befanden. Allerdings deutet der elaborierte Buchschmuck dieser Handschrift sowie der Umstand, dass hier lediglich die drei großen Articella-Texte überliefert sind, darauf hin, dass es sich bei dieser Handschrift um einen repräsentativen Band handelt, den sich entweder ein sehr wohlhabender Student für sein Studium anfertigen ließ oder ein fertig ausgebildeter Arzt. Denn die drei Initialen bilden die drei zentralen Aufgaben des Arztes jener Zeit ab, nämlich die Lehre, die Diagnose und die Therapie.

Sven-Philipp Brandt

Die Articella-Handschriften der Amploniana und ihre ‘französische‘ Herkunft

Bereits im letzten Blogbeitrag vom 17.11.2021 habe ich das Konvolut der Articella-Handschriften vorgestellt. Heute möchte ich daran anknüpfen und zeigen, welche Rückschlüsse und Interpretationsmöglichkeiten sich aus dem Konvolut für die Sammlungsgeschichte der Amploniana ziehen lassen.
Es ist sehr bemerkenswert, dass sieben der neun Articella-Kodizes der Sammlung aus dem südfranzösischen Raum stammen und nur je ein Exemplar aus Italien bzw. Paris. Das ist umso erstaunlicher, da in jener Zeit des 13. Jahrhunderts mit Salerno, Bologna und Padua vor allem italienische Städte in der medizinischen Lehre führend waren und die medizinische Fakultät in Bologna ihren Lehrplan sogar an der Articella ausgerichtet hatte. Im französischen Raum stach wiederum nur das im Süden gelegene Montpellier mit seiner 1220 gegründeten medizinischen Schule hervor, die 1289 in eine Universität umgewandelt wurde.
Doch wie kam es dazu, dass vor allem Articella-Handschriften aus Montpellier ihren Weg in die Amploniana fanden? Hierfür ist die Erforschung der Objektgeschichte hilfreich, mit der sich das aktuelle DFG-Projekt befasst. So lassen sich in den meisten dieser Handschriften Spuren finden, die eine Zwischenstation in Paris nahelegen.

Abb. 1: CA 2° 285 fol. Vorblatt IV r: Magister Johannes Chareton est un bon homme

Das reicht von der Nennung eines ausschließlich in Paris und Umgebung belegten Professors im Einband [Abb. 1] über einen Preisvermerk mit einer ausschließlich in Nordfrankreich gebräuchlichen Währung [Abb. 2] bis hin zu einer Kommentarhand, die sich einem gewissen Henricus Maltmyngher de Berka zuordnen lässt.

Abb. 2: CA 2° 264 fol. 237v: Radierter Preisvermerk, mit Quarzlampe zu erkennen: Libras Parisiensis, was auf den Livre Parisis als nordfranzösische Rechnungsmünze verweist, vgl. Kroha, Großes Lexikon der Numismatik, s.v. Livre.

Und genau dieser Henricus könnte auch der Schlüssel für dieses Herkunftsrätsel sein: Er war zunächst als Schreiber für Amplonius tätig, nahm schließlich 1394 unter dem Rektorat des Amplonius in Erfurt sein Studium auf und führte dies unter dessen Rektorat in Köln weiter fort. Im Jahr 1401 wechselte Henricus dann für einige Jahre an die Universität Paris und war dort unter anderem Prokurator für die englisch-deutsche Nation. Da er in der Handschrift CA 4° 319 das Haus als Amplonius als seine Arche, seinen geborgenen Rückzugsort, bezeichnet und auch einige Bücher der Amploniana nachweislich aus dem Vorbesitz des Henricus stammen, scheint er über die Jahre ein sehr enges Verhältnis zu seinem Förderer Amplonius gepflegt zu haben. Es wäre daher durchaus denkbar, dass eben jener Henricus für Amplonius und seine beabsichtigte Stiftung die Anwesenheit in Paris nutzte, hochwertige Articella-Handschriften als kleine Lehrbuchsammlung für Amplonius anzukaufen. Möglich wäre auch, dass Amplonius nach dem frühen Tod des Henricus dessen Bibliothek übernahm und dort eben aus der Pariser Zeit neben einigen anderen Kodizes auch diese Articella-Bände übernahm.
Bliebe abschließend noch zu klären, weshalb so viele Handschriften von Montpellier nach Paris kamen: In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurde Montpellier immer wieder von verheerenden Seuchen heimgesucht, sodass sich die Bevölkerungszahl in dieser Zeit um ein Drittel reduzierte. Diese wiederkehrenden Epidemien sorgten für einen Abwanderung fachkundiger Personen nach Paris, die auf diesem Wege auch zahlreiche medizinische Schriften mit nach Paris nahmen und so auch für Amplonius und sein Umfeld zugänglich machten.

Autor: Sven-Philipp Brandt

Ein hebräisches Unikat in der UB? Eine Fachreferentin auf Spurensuche

Ein hebräisches Unikat in der UB? Eine Fachreferentin auf Spurensuche

Bücher, die nicht in einem Bibliothekskatalog (etwa OPAC oder Discovery) verzeichnet sind, sind verlorene Schätze, denn sie können nicht gefunden werden: Niemand weiß, dass es sie in dieser Bibliothek überhaupt gibt. Deshalb muss jeder Schatz einzeln gehoben, jedes Buch gesondert identifiziert, also „erschlossen“ und katalogisiert werden, und das kann mitunter zur Detektivarbeit werden, wie das folgende Beispiel zeigt:

Auf dem Schreibtisch der Fachreferentin für Theologie landete ein Buch, das im Zuge der Integration der Bibliothek des Erfurter Priesterseminars (Bibliotheksstempel „Kath. Priesterseminar Erfurt“) in die Universitätsbibliothek Erfurt gelangt war. Laut Besitzstempel hatte es dem Einbecker Oberlehrer Dr. Otto Adolf Ellissen (1859-1943; https://comdeg.eu/artikel/94740/; Besitzstempel) gehört, rein zeitlich gesehen könnte es sein Vater, der Philologe und Neogräzist Adolf Ellissen (1815-1872), erworben haben. Ob einer von beiden in andächtiger Nutzung des Buches auch die Kupferstichillustration von Rudolf Schäfer (1878-1961) auf das Vorsatzblatt gegenüber dem Titelblatt eingeklebt hat mit dem Thema „Jesus segnet die Kinder“/“Lasset die Kinder zu mir kommen“ (Mt 19,13-15; Mk 10, 13-16; Lk 18, 15-17; http://www.iconclass.org/rkd/73C7224/)?

Auf welchen Wegen genau das Buch in die Bibliothek des Priesterseminars Erfurt gelangte, konnte bisher nicht geklärt werden, vermutlich geschah dies aber im Jahr 1954, denn darauf deutet die Zugangsnummer „Z 54/1942“ hin (Analogien aus dem Bestand zeigen, dass 1942, obwohl es nach einer Jahreszahl aussieht, nicht das Zugangs-Jahr ist – zumal das Priesterseminar zusammen mit dem „Philosophisch-theologischen Studium“ Erfurt erst 1952 eingerichtet wurde; die Signaturen „Ex nT 357“, „/A 55“ [getilgt] sowie „A 26“ stammen ebenfalls aus der Bibliothek des Priesterseminars, auch dazu gibt es Analogien). Eventuell in diesem Zusammenhang erhielt das Buch den Einband mit der Aufschrift „Hebräische Übersetzung der 4 Evangelien“ (Blinddruck), vielleicht auch den handschriftlichen Eintrag „Hebräische Übersetzung der 4 Evangelien von Franz Delitzsch 1865“.

Allerdings führt dieser handschriftliche Vermerk in die Irre: Die Ausgabe von Franz Delitzsch (1813-1890) erschien erst ab 1877 (http://www.jstor.org/stable/527278). Die Jahreszahl 1865 ist aber Teil der gedruckten Titelseite des vorliegenden Buches (sogar zusätzlich versteckt in den mit Punkten versehenen hebräischen Buchstaben in der letzten Zeile vor der Jahreszahl, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hebr%C3%A4ische_Zahlschrift), bleibt also eine fest gesetzte Größe, von der man ausgehen muss.

Wenn die Buchausgabe also nicht von Franz Delitzsch stammt: Wer könnte 1865 eine hebräische Übersetzung der Evangelien herausgegeben haben? Erstaunlicherweise gibt es einen (englischsprachigen) Wikipedia-Artikel über Bibelübersetzungen ins Hebräische, der für dieses Jahr eine Ausgabe von Ezekiel Margoliouth aufführt. Allerdings steht dort auch: „This is the only complete cantillated translation of the New Testament.” Aus zwei Gründen kann das vorliegende Buch also nicht Ezekiel Margoliouths Ausgabe sein: Es handelt sich lediglich um die vier Evangelien, nicht um das ganze Neue Testament. Und: Die Ausgabe ist nicht „cantilliert“, also mit einer speziellen Notation versehen, die Hinweise für den Gesang im Synagogengottesdienst gibt (wie etwa in einer späteren Ausgabe von Margoliouth [1923] zu sehen ist: https://vineofdavid.ffoz.org/remnant-repository/ezekiel_margoliouth/).

Dennoch hilft der Wikipedia-Artikel weiter, gibt er doch den Hinweis auf die „London Jews‘ Society“, deren Missionar Ezekiel Margoliouth war. Die 1809 gegründete „London Jews‘ Society“, die zeitweilig auch den Namen „London Society for Promoting Christianity Amongst the Jews” trug, hatte ab 1813 eine mehrfach revidierte hebräische Übersetzung des Neuen Testaments herausgegeben (1813-1816; 1838; 1864)[1]. An der ersten Übersetzung[2] nahm Franz Delitzsch, der ja von einem Vorbesitzer des vorliegenden Buches (womöglich, weil er keine andere kannte) als Urheber der enthaltenen Ausgabe verstanden wurde, Anstoß, da sie „in sprachlicher Korrektheit vieles zu wünschen übrig liess“ (s. http://www.jstor.org/stable/527278, 226) und fertigte eine eigene an, die, wie gesagt, ab 1877 in mehreren Auflagen erschien. Franz Delitzsch war als evangelisch-lutherischer Theologe Professor für Altes Testament und in diesem Zusammenhang ein hervorragender Hebraist. Seine Motivation für die Übersetzung des ganzen Neuen Testaments ins Hebräische war, neben dem sprachlichen Interesse, die Judenmission[3] — genau wie die der „London Society for Promoting Christianity Amongst the Jews”, wie der Name schon sagt.

Die dritte, durch die Society veranlasste Übersetzung (seit 1864) hatte Johann Christian Reichardt (geb. 1803) zu verantworten, wahrscheinlich in Zusammenarbeit mit Ezekiel Margoliouth und Joachim Heinrich Raphael Biesenthal. In der Einführung einer Ausgabe, die die Versionen von 1838 und 1864 vergleichend gegenüberstellt, heißt es: „Le 21 avril 1865, on fait imprimer 2.000 exemplaires in-32 des quatre Evangiles, selon la nouvelle version.”[4] Könnte dies die vorliegende Ausgabe sein? Wo wären dann die anderen 1.999 Exemplare? Leider scheint es auf der ganzen Welt kein weiteres Exemplar dieser Ausgabe mehr zu geben, mit dem man das Vorliegende vergleichen kann – zumindest ist es bisher von keiner Bibliothek katalogisiert … womit wir wieder beim Eingangsthema wären!

Ich danke Susanne Küther (Institut für die Geschichte der deutschen Juden), Dr. André Junghänel (Bayerische Staatsbibliothek), Prof. Dr. em. Georg Hentschel, Dr. Michael Matscha (Bistumsarchiv Erfurt) sowie Thomas Bouillon und Holger Schultka für ihr Interesse, ihre Hinweise und den fruchtbaren Austausch!

Anmerkungen:

[1] Vgl. The four Gospels Translated into Hebrew by the London Society for Promoting Christianity amongst the Jews (1838+1864), Introduction par Jean Carmignac, Traductions hébraïques des Evangiles rassemblées par Jean Carmignac (Turnhout, Belgien: Brépols, 1985); W.T. Gidney, The history of the London Society for promoting Christianity amongst the Jews, from 1809 to 1908 (London: London Society for promoting Christianity amongst the Jews, 1908).

[2] Gustaf Dalman, “Das Hebräische Neue Testament von Franz Delitzsch,” Hebraica 9, No. 3/4 (1893) 226–231, 226: http://www.jstor.org/stable/527278.

[3] Er gründete 1871 den „Evangelisch-Lutherischen Centralverein für Mission unter Israel“ – welcher heute der „Evangelisch-lutherische Zentralverein für Begegnung von Christen und Juden“ ist, denn die Judenmission wird heute aus verschiedenen Gründen kritisch gesehen (https://de.wikipedia.org/wiki/Judenmission).

[4] Vgl. The four Gospels Translated into Hebrew by the London Society for Promoting Christianity amongst the Jews, S. XXVII.