Wer glaubt, dass durchschossene Bücher Opfer von Verbrechen oder Kriegshandlungen wurden, befindet sich auf dem Holzweg. Vielmehr stammt dieser Begriff aus dem Prozess der Buchherstellung: nach jedem beschriebenen oder bedruckten Blatt ist eine leeres Blatt eingebunden.
Dieses konnten z.B. die Autoren selbst für Korrekturen oder Ergänzungen (Anmerkungen für neue Auflagen) nutzen oder Käufer und Leser beauftragten das Einbinden der leeren Blätter, um Platz für handschriftliche Notizen zu haben – also zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem gedruckten Werk.
Handelt es sich bei einem Bibliotheksexemplar (wie hier LA. 4° 154 (1)) um ein durchschossenes Buch, wird dies in den Informationen zum Exemplar vermerkt und ist auch bei der Recherche im OPAC oder Discovery zu finden.
Einschussspuren am Exemplar (6-Tu. 4° 602)
Ein durch Einschuss beschädigtes Buch haben wir aber auch im Bestand: die Postinkunabel (Vocabularius Theologie …) wurde schwer beschädigt; dank umfangreicher Restaurierungsarbeiten ist dieser Band wieder nutzbar!
„Die ,Bibliotheca Amploniana‘ ist die größte heute beinahe geschlossen erhaltene Handschriftensammlung eines spätmittelalterlichen Gelehrten weltweit und zählt zu den bedeutendsten Handschriftensammlungen Deutschlands.“[1]
Aus diesem vielzitierten Satz soll heute das Wort „beinahe“ näher beleuchtet und ein großartiger Fund in einen größeren Kontext eingeordnet werden.
Der Arzt und Gelehrte Amplonius Rating de Berka erstellte um 1410-1412 einen Katalog seiner bis dahin zusammengetragenen Schriften und übergab diese Sammlung 1412 an das von ihm in Erfurt gestiftete Collegium Porta Coeli. Da er verfügte, dass jeder Stipendiat nach Abschluss seines Studiums dem Collegium mindestens ein Buch zu überlassen habe, wuchs die Büchersammlung – später auch mit Drucken – immer weiter an.
Auf der anderen Seite gingen im Laufe der Jahrhunderte vielleicht sogar mehrere hundert Handschriften verloren[2] oder gelangten auf unterschiedlichsten Wegen in anderes Eigentum.
Diebstähle sind bereits aus dem 15. Jahrhundert bekannt, und auch in späteren Zeiten waren die Bände nicht immer genügend gesichert und beaufsichtigt.
Der Mainzer Kurfürst und Erzbischof Lothar Franz Graf Schönborn (1695-1725) bediente sich aus den Beständen für seine Privatsammlung.
Im 18. Jahrhundert muss leider Vernachlässigung im Spiel gewesen sein. 1713 beschrieb der Erfurter Chronist Johann Michael Weinrich (1683-1727) seine Beobachtungen: „und ob sie gleich feine, auch rare Codices MStos haben mag, so wird ihrer doch ja wohl übel gehütet […], daß auf manchem Buch der Staub zwey Finger dick ruhe und niemand wisse, welches das oberste oder unterste Theil der Bibliothec bedeute.“[3]
Und: „Nach Eingehen des Kollegiums fand man 45 Codices so verfault und vermodert vor, daß man sich dazu entschloß, sie zu vernichten.“[4]
Zwei nach Münster gelangte Bände verbrannten während des Zweiten Weltkriegs.
Eine größtenteils durch Brand zerstörte Handschrift befindet sich aktuell noch im Depositum, als welches die Bibliotheca Amploniana heute – unter optimalen klimatischen und sicherheitstechnischen Bedingungen – in der Universitätsbibliothek Erfurt aufbewahrt wird.
Dep. Erf., CA 4° 208, https://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/HSP000604D600000000
Ehemals amplonianische Handschriften finden sich heute in der Schlossbibliothek Pommersfelden (bei Bamberg), in den Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek in München, der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, der Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Forschungsbibliothek Gotha sowie der Universitätsbibliotheken Dresden und Göttingen.
Eine genaue Bezifferung der Verluste oder gar eine genaue Rekonstruktion der amplonianischen Bestände in ihrer ursprünglichen Anzahl wird wohl kaum möglich sein.
Umso erfreulicher ist es also, wenn durch die Forschung Handschriften aus der Bibliotheca Amploniana wiederentdeckt werden. Dies geschah kürzlich in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: https://sub.hypotheses.org/1172
Ein wissenschaftlicher Bearbeiter wurde zunächst durch den für viele Amploniana-Bände typischen Einband[5] auf die mögliche Herkunft aufmerksam und fand sogar einen eindeutigen Besitzeintrag:
Eintrag im vorderen Spiegel der Göttinger Handschrift Kodex 8° Cod. Ms. hist. nat. 75 Cim.: „porte celi Jn Erffordia“, s. https://sub.hypotheses.org/1172
So schließt sich eine weitere Lücke in der Erforschung der „entfremdeten“ Handschriften der Amploniana.
Ob es vielleicht sogar eines Tages möglich sein wird, die bisher bekannten erhaltenen Handschriften aus den verschiedenen Sammlungen virtuell zusammenzuführen?
Ein lohnendes Ziel wäre es jedenfalls.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft – das ist die zweite gute Nachricht – belohnt diese Erfolge mit der Bewilligung einer zweiten Projektphase!
Das ehrgeizige, aber unter Beibehaltung der aktuellen Leistung realistische Ziel ist es nun, bis Ende September 2025 alle Handschriften der Bibliotheca Amploniana zu digitalisieren.
Bei der Aufklärung von Verbrechen werden Fingerabdrücke am Tatort aufgrund ihrer Einzigartigkeit zur Identifizierung und Überführung des Täters oder der Täterin benutzt.
Bei der Identifizierung Alter Drucke im Bibliothekswesen werden Fingerprints erstellt, indem Zeichen von definierten Seiten und Zeilen eines gedruckten Werks entnommen werden in Kombination mit dem Erscheinungsdatum und einer evtl. Bandangabe. So lassen sich unterschiedliche Druckausgaben und – varianten unterscheiden.
Gebräuchlich sind zwei Arten der Fingerprintmethode: der LOC- bzw. FEI-Fingerprint und der STCN-Fingerprint.
In der UB Erfurt wird die erste Ermittlungsmethode genutzt, bei welcher man auf typographische Unterschiede im Zeilenumbruch setzt. Grenzen hat sie, wenn Nachdrucke zeilenidentisch sind und bei Auflagen mit gleichem Erscheinungsjahr.
Wie funktioniert nun das Ganze?
Der Fingerprint wird aus 16 Zeichen gebildet, die in vier Gruppen stehen. Es werden dazu genommen
Gruppe 1: zwei Zeichen der letzten und vorletzten Zeile (Zeilenende) von der ersten bedruckten Vorderseite nach der Titelseite
Gruppe 2: zwei Zeichen der letzten und vorletzten Zeile (Zeilenende) von der vierten Vorderseite nach der zuvor verwendeten Vorderseite
Gruppe 3: zwei Zeichen der letzten und vorletzten Zeile (Zeilenende) der Vorderseite, welche der für die zweite Gruppe herangezogenen folgt und die korrekte Zahl 13, ersatzweise 17, trägt
Gruppe 4: zwei Zeichen der letzten und vorletzten Zeile (Zeilenanfang) der Rückseite der für die dritte Gruppe verwendeten Seite
Dazu kommen noch
ein Anzeiger für die Seite des Buches, der die dritte Zeichengruppe entnommen wurde: “3” für Seite 13, “7” für Seite 17 oder “C” bei fehlender oder falscher Zählung.
das Erscheinungsdatum (mit „A“ für arabische und „R“ für römische Zahlen) und
bei mehrbändigen Werken die Zählung des Bandes
Beispiel:
Die eindeutige Identifizierung mit Fingerprint ist nicht nur bei der Erschließung des eigenen Bestands hilfreich, sondern auch bei der Arbeit mit Alten Drucken aus anderen Bibliotheken.
Klingt kompliziert? Auch hier gilt: Übung macht den Meister!
In diesem Zusammenhang laden wir alle Interessierten sehr herzlich zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion über „Medizin im Mittelalter“ am 20. Oktober um 20 Uhr ins Coelicum, Domstraße 10 ein:
Bei „Medizin im Mittelalter“ denkt man an Hildegard von Bingen, an Heilkräuter und Klostermedizin. Wie vielfältig die Beschäftigung mit Heilkunde damals war, ob es „die Medizin des Mittelalters“ überhaupt gab und was uns die handgeschriebenen Bücher aus dieser Zeit dazu erzählen können, darüber diskutieren in lockerer Atmosphäre Iolanda Ventura, Expertin für lateinische medizinische Literatur des Mittelalters, und Bernhard Schnell, Experte für mittelalterliche Medizin. Es moderiert Prof. Dr. Sabine Schmolinsky (Universität Erfurt).
Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.
Viele Leser unseres Blogs kennen Sprüche wie diesen noch aus der Zeit, als Poesiealben in der Klasse die Runde machten: MitschülerInnen und LehrerInnen, aber auch Mitglieder der Familie trugen Sprüche ein; gern wurden die Texte mit Stammversbildern oder Fotos verschönert. So kann man sich auch in späteren Jahren an weisen Zitaten und mehr oder weniger denkwürdigen Versen erfreuen. Nachfolger dieses Brauchs sind Freundschaftsbücher, wo auf schon vorgedruckte Einträge nur noch geantwortet werden muss („Meine Lieblingsspeise ist: …“)
Der Ursprung dieser Alben aber liegt schon weit zurück: bereits im 16. Jahrhundert sammelten Studierende Unterschriften Ihrer Dozenten in Stammbüchern, den alba amicorum (z.B. an der Universität Wittenberg); der Brauch wurde ebenfalls an Adelshöfen, in Handelsstädten und in Künstlerkreisen gepflegt. Die Stammbuchbesitzer sammelten handschriftliche Einträge befreundeter oder bekannter (oftmals höherrangiger) Personen zu Erinnerungs- und Dokumentationszwecken. Sie konnten sich gleichzeitig auch selbst darstellen – sei es mit der prächtigen Ausstattung des Stammbuchs oder mit den Einträgen einflussreicher und berühmter Persönlichkeiten, die dann durchaus auf der „Karriereleiter“ behilflich waren.
Abb. 2
Einige Stammbuchexemplare befinden sich im Handschriftenbestand der Universitätsbibliothek Erfurt, wobei das bekannteste das sogenannte „Stammbuch von Maximilian II.“ (UB Erfurt, Dep. Erf., CE 8° 28) ist. Allerdings ist es nicht das Stammbuch dieses Herrschers, sondern es enthält lediglich das Autograph Maximilians und das Wappen mit dem kaiserlichen Doppeladler (siehe Abbildung 2).
Stammbuchhalter war Johann Georg von Wartenberg, (?? bis 4.6.1647 Bamberg], ein Mundschenk Friedrichs V. von der Pfalz. Die Eintragungen datieren aus den Jahren 1602 bis 1647.
Abb. 3
Die Besonderheit dieses Stammbuches sind nicht die üblichen Eintragungen (manchmal nur in Form von Großbuchstaben als Abkürzung für einen damals üblichen Sinn- oder Bibelspruch) mit evtl. Federzeichnungen, sondern der Beschreibstoff: Buntpapiere der verschiedensten Art, z. B. Marmorpapier oder Silhouettenpapier, siehe Abbildung 3.
Auch Stammbücher aus späteren Jahren sind aufschlussreiche und schön anzuschauende Quellen ihrer Zeit: das Stammbuch des Johann Gottlieb Gerlach (UB Erfurt, Dep. Erf., CE 8° 28s), geführt von 1733 bis 1789 (Abbildungen 4 und 5), das Stammbuch des Johann Adam Hennig (UB Erfurt, Dep. Erf., CE 8° 30ac), geführt von 1794 bis 1804 (Abbildung 6) und das Tagebuch eines Mannes namens Wunder (UB Erfurt, Dep. Erf., CE 8° 28f) aus der Zeit Anfang 19 Jh., (Abbildung 1) seien hier genannt.
Abb. 4Abb. 5Abb. 6
Diese und noch einige andere Stammbücher sind nur einem kleinen Leserkreis bekannt, wobei das Stammbuch Maximilians II. als einziges in digitalisierter Form vorliegt (Digitalisat in der Digitalen Historischen Bibliothek Erfurt/Gotha). Um sie weiteren Interessenten zugänglich zu machen, wäre auch eine Digitalisierung der anderen Exemplare wünschenswert, so dass die Aufnahmen im Projekt „Repertorium Alborum Amicorum“ mit den Digitalisaten angereichert werden können.