Amploniana-Handschrift in Göttingen wiedergefunden

„Die ,Bibliotheca Amploniana‘ ist die größte heute beinahe geschlossen erhaltene Handschriftensammlung eines spätmittelalterlichen Gelehrten weltweit und zählt zu den bedeutendsten Handschriftensammlungen Deutschlands.“[1]

Aus diesem vielzitierten Satz soll heute das Wort „beinahe“ näher beleuchtet und ein großartiger Fund in einen größeren Kontext eingeordnet werden.

Der Arzt und Gelehrte Amplonius Rating de Berka erstellte um 1410-1412 einen Katalog seiner bis dahin zusammengetragenen Schriften und übergab diese Sammlung 1412 an das von ihm in Erfurt gestiftete Collegium Porta Coeli. Da er verfügte, dass jeder Stipendiat nach Abschluss seines Studiums dem Collegium mindestens ein Buch zu überlassen habe, wuchs die Büchersammlung – später auch mit Drucken – immer weiter an.

Auf der anderen Seite gingen im Laufe der Jahrhunderte vielleicht sogar mehrere hundert Handschriften verloren[2] oder gelangten auf unterschiedlichsten Wegen in anderes Eigentum.

Diebstähle sind bereits aus dem 15. Jahrhundert bekannt, und auch in späteren Zeiten waren die Bände nicht immer genügend gesichert und beaufsichtigt.

Der Mainzer Kurfürst und Erzbischof Lothar Franz Graf Schönborn (1695-1725) bediente sich aus den Beständen für seine Privatsammlung.

Im 18. Jahrhundert muss leider Vernachlässigung im Spiel gewesen sein. 1713 beschrieb der Erfurter Chronist Johann Michael Weinrich (1683-1727) seine Beobachtungen: „und ob sie gleich feine, auch rare Codices MStos haben mag, so wird ihrer doch ja wohl übel gehütet […], daß auf manchem Buch der Staub zwey Finger dick ruhe und niemand wisse, welches das oberste oder unterste Theil der Bibliothec bedeute.“[3]

Und: „Nach Eingehen des Kollegiums fand man 45 Codices so verfault und vermodert vor, daß man sich dazu entschloß, sie zu vernichten.“[4]

Zwei nach Münster gelangte Bände verbrannten während des Zweiten Weltkriegs.
Eine größtenteils durch Brand zerstörte Handschrift befindet sich aktuell noch im Depositum, als welches die Bibliotheca Amploniana heute – unter optimalen klimatischen und sicherheitstechnischen Bedingungen – in der Universitätsbibliothek Erfurt aufbewahrt wird.

Dep. Erf., CA 4° 208, https://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/HSP000604D600000000

Ehemals amplonianische Handschriften finden sich heute in der Schlossbibliothek Pommersfelden (bei Bamberg), in den Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek in München, der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar, der Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Forschungsbibliothek Gotha sowie der Universitätsbibliotheken Dresden und Göttingen.

Eine genaue Bezifferung der Verluste oder gar eine genaue Rekonstruktion der amplonianischen Bestände in ihrer ursprünglichen Anzahl wird wohl kaum möglich sein.

Umso erfreulicher ist es also, wenn durch die Forschung Handschriften aus der Bibliotheca Amploniana wiederentdeckt werden. Dies geschah kürzlich in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: https://sub.hypotheses.org/1172

Ein wissenschaftlicher Bearbeiter wurde zunächst durch den für viele Amploniana-Bände typischen Einband[5] auf die mögliche Herkunft aufmerksam und fand sogar einen eindeutigen Besitzeintrag:

Eintrag im vorderen Spiegel der Göttinger Handschrift Kodex 8° Cod. Ms. hist. nat. 75 Cim.: „porte celi Jn Erffordia“, s. https://sub.hypotheses.org/1172

So schließt sich eine weitere Lücke in der Erforschung der „entfremdeten“ Handschriften der Amploniana.

Ob es vielleicht sogar eines Tages möglich sein wird, die bisher bekannten erhaltenen Handschriften aus den verschiedenen Sammlungen virtuell zusammenzuführen?
Ein lohnendes Ziel wäre es jedenfalls.

Dr. Katrin Ott


Anmerkungen:

[1] Etwa: https://www.uni-erfurt.de/bibliothek/suchen-und-finden/handschriften-inkunabeln-alte-drucke/bibliotheca-amploniana/sammlung; https://de.wikipedia.org/wiki/Bibliotheca_Amploniana

[2] Johannes Kadenbach: 476. Thomas Bouillon: mindestens 257, vgl. https://kobra.uni-kassel.de/bitstream/handle/123456789/2017062852944/PfeilRatingDeBerka.pdf?sequence=1&isAllowed=y, S. 49 und ebd., Anm. 78).

[3] https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11253292?page=319, S. 297f.

[4] S. https://opac.uni-erfurt.de/DB=1/XMLPRS=N/PPN?PPN=186838085, S. 3.

[5] Vgl. etwa: https://dhb.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ufb_derivate_00015520/CA-2-00152_0001.tif (ähnliche Kette und Halbledereinband); https://https://dhb.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ufb_derivate_00014705/CA-2-00292_0001.tif (ähnlicher Halbledereinband; die Messingbänder fehlen); https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_u_00023504 (ähnliche Kette)

DFG fördert Fortsetzung der Digitalisierung der Bibliotheca Amploniana

In dem seit Oktober 2019 laufenden DFG-Projekt, „Digitalisierung und Tiefenerschließung von Handschriften der Bibliotheca Amploniana in der Universitätsbibliothek Erfurt“ sollten innerhalb von drei Jahren 317 der 977 Handschriften digitalisiert werden (s. Lesezeichen-Beitrag vom 18.06.2020: https://www2.uni-erfurt.de/bibliothek/blog/neues-dfg-projekt-bibliotheca-amploniana-in-der-universitaetsbibliothek-erfurt/).

Zu diesem Projekt gibt es zwei hervorragende Neuigkeiten:

Das Projektziel wurde nicht nur erreicht, sondern sogar übertroffen: Aktuell sind ca. 520 Handschriften der Bibliotheca Amploniana online: https://dhb.thulb.uni-jena.de/servlets/solr/dhb_restricted?qry=ArchFile_class_001%3Ac8166d86-1cec-4ad0-b67d-39023f1452e2&fq=hasImage%3A(%22false%22).

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft – das ist die zweite gute Nachricht – belohnt diese Erfolge mit der Bewilligung einer zweiten Projektphase!

Das ehrgeizige, aber unter Beibehaltung der aktuellen Leistung realistische Ziel ist es nun, bis Ende September 2025 alle Handschriften der Bibliotheca Amploniana zu digitalisieren.

Die IIIF-fähigen Digitalisate werden open access in der von der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB) Jena entwickelten Digitalen Historischen Bibliothek Erfurt/Gotha präsentiert. Interessierte aus aller Welt haben somit Zugang zu Digitalisaten in bester Qualität (400 bis 600 dpi). Einen regelmäßig aktuell gehaltenen Überblick über den Projektfortschritt bietet unsere Projektseite:
https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/einrichtung/bibliothek/Bestand_Sammlungen/PDF_Dokumente/umfang_digitalisierung.pdf

Dep. Erf., CA 2° 96, Blatt 7 r: https://dhb.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/ufb_derivate_00020096/CA-2-00096_0007.tif

 

Dr. Katrin Ott

 

Open Science Magazin des ZBW Leibnitz-Informationszentrums

Das neue Open-Science-Magazin des ZBW Leibnitz-Informationszentrums Wirtschaft gibt Wirtschaftsforschenden jeden Monat konkrete Praxistipps rund um das Thema Open Science.Es bietet zudem Erfahrungen zu Zweitveröffentlichungen, Replikationen, Präregistrierungen, Open Data, Wissenschaftskommunikation, Open Source etc. Zudem gibt es Worksheets mit konkreten Tipps und Hinweisen. Spannend ist auch der Podcast „The Future is Open Science“ mit Interviews und inspirierenden Transformationsideen.

Forschungsdaten FAIR gestalten

Die im Jahr 2016 veröffentlichten FAIR Prinzipien zielen darauf ─ im Rahmen des rechtlich und technisch Möglichen ─, Forschungsdaten für Menschen und Maschinen optimal aufzubereiten und zugänglich zu machen.

Dabei steht das Akronym FAIR für Findable (Auffindbar), Accessible (Zugänglich), Interoperable (Interoperabel) und Reusable (Wiederverwendbar).

Durch die Erfüllung verschiedener Bedingungen, die mit Hilfe des Akronyms beschrieben werden, soll die Wiederverwendbarkeit von Datenbeständen verbessert werden. Zu erfüllende Bedingungen bei der Veröffentlichung von Forschungsdaten sind dabei beispielsweise die Zuweisung eines global eindeutigen und persistenten Identifiers (z.B. DOI) zu den Forschungsdaten, die ausführliche und standardisierte Beschreibung der Daten mit Hilfe von maschinenlesbaren Metadaten, die Nutzung offener Dateiformate für die Datensätze sowie die Angabe einer eindeutigen Nutzungslizenz.

Wenn Forschende Ihre Forschungsdaten FAIR gestalten führt dies idealerweise dazu, dass Forschungsprozesse effizienter, Forschungsergebnisse nachvollziehbarer, neue Forschungsfragen motiviert und Kollaborationen erleichtert werden.

Die FAIR Prinzipien wurden in der letzten Veranstaltung der Coffee-Lecture-Reihe im Sommersemester 2021 bereits genauer vorgestellt, wenn Sie aber noch mehr darüber erfahren wollen, wie Forschungsdaten FAIR gestaltet werden können, wenden Sie sich gern an die Servicestelle für Forschungsdatenmanagement oder lesen Sie hier nach.

 

Quellen:

https://www.forschungsdaten.info/themen/veroeffentlichen-und-archivieren/faire-daten/

https://www.go-fair.org/fair-principles/

https://blogs.tib.eu/wp/tib/2017/09/12/die-fair-data-prinzipien-fuer-forschungsdaten/

Wilkinson, M., Dumontier, M., Aalbersberg, I. et al. The FAIR Guiding Principles for scientific data management and stewardship. Sci Data 3, 160018 (2016). https://doi.org/10.1038/sdata.2016.18

 

Bild-Quellen:

Vorschaubild: Sungya Pundir, Wikimedia Commons, CC By-SA 4.0

Beitragsbild: The Turing Way Community, & Scriberia. (2020, March 3). Illustrations from the Turing Way book dashes. Zenodo. http://doi.org/10.5281/zenodo.3695300; CC By 4.0

Publizieren unter den Bedingungen des digitalen Wandels

Sind Tweets, Blog-Beiträge oder Living Documents gegenüber traditionellen Publikationsformaten gleichwertige wissenschaftliche Publikationsleistungen? Welche Potentiale, Hindernisse und Bedarfe entstehen durch den digitalen Wandel hinsichtlich des wissenschaftlichen Publizierens? Diesen Fragen ist die Arbeitsgruppe „Wissenschaftspraxis“ der „Schwerpunktinitiative Digitale Information“ der Allianz der Wissenschaftsorganisationen nachgegangen und hat im März dazu das Diskussionspapier zur „Ausweitung der Wissenschaftspraxis des Publizierens unter den Bedingungen des digitalen Wandels“ veröffentlicht. In dieser fächerübergreifenden Metareflexion wird die Ausweitung des Publikationsbegriffs analysiert, die eigenständige wissenschaftliche Leistung von neuen digitalen Publikationsformaten, darunter Forschungsdaten und -software, dargestellt und entsprechende Entwicklungsbedarfe abgeleitet. Etwa, dass die einzelnen Fächer Standards für die Publikationen neuer Formate entwickeln und eigene Publikationsplattformen aufbauen sollen. Dabei müssen Qualitätssicherungsprozesse organisiert, Rechtsfragen geklärt werden. Insgesamt gilt es allerdings auch, die Gratifikationsmechanismen zu modifizieren: „Schließlich ist der Status der nicht-traditio­nellen Publikationsformate als anerkennenswürdige wissenschaftliche Leistungen noch wenig gesichert. Hier bedarf es neuer, ausdifferenzierter Regeln, Konventionen, Standards und Zuständigkeiten, um das Potenzial einer qualitativ hochwertigen wissenschaftlichen Publikationspraxis im digitalen Zeitalter realisieren zu können.“ (S. 14)

Breuer, C., Trilcke, P. (2021): Die Ausweitung der Wissenschaftspraxis des Publizierens unter den Bedingungen des digitalen Wandels, Herausgegeben von der Arbeitsgruppe »Wissenschaftspraxis« im Rahmen der Schwerpunktinitiative »Digitale Information« der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen, 15 Seiten.

https://doi.org/10.48440/allianzoa.041. Englisch: https://doi.org/10.48440/allianzoa.042

Reihe „Digitale Werkzeuge“: # & Co. in der Forschung

In dieser Reihe stellen wir digitale Hilfsmittel vor, die für die Arbeit an der Universität Erfurt nützlich sein können – für die Forschung, kollaboratives Arbeiten oder die (Selbst)Organisation. Bei Fragen rund um diese Themen steht Ihnen die Koordinatorin für Digital Humanities der Universität Erfurt zur Verfügung, deren Büro in der Universitätsbibliothek angesiedelt ist (https://www.uni-erfurt.de/bibliothek/forschungsunterstuetzende-dienste/digital-humanities/).

Heute:

Tagging

Twitter und andere Social-Media-Kanäle machten sie populär: Hashtags! In Posts verweisen solche Markierungen (tags) mittels Raute/Doppelkreuz (#, hash) auf Themen, die auch in anderen Posts vorkommen, so dass diese in einer Übersichtsseite zusammengefasst werden können. Hashtags helfen also, Inhalte zu beschreiben, zu sortieren, zu kategorisieren und so ihre Zusammenstellung, Verknüpfung sowie überhaupt die Suche zu ermöglichen.

Im Alltag verwenden wir durchaus bewusst oder unbewusst Tags, etwa, wenn wir unsere Fotos nach Orten, Personen oder Ereignissen sortieren oder unsere E-Mails oder Dateien kategorisieren; auch Literaturverwaltungsprogramme wie Citavi oder Zotero bieten derartige Möglichkeiten.

Auch in diesem Blog werden Tags verwendet, um Themen zu kennzeichnen. Rechts neben diesem Beitrag unter „Schlagwörter“ werden sie in einer Tag-Cloud (Wortwolke) visualisiert: die Größe der Tags zeigt ihre Verwendungshäufigkeit an.

Der Vorteil von Tags ist, dass sie nicht hierarchisch gegliedert sein müssen und man dadurch deutlich flexibler agieren kann als nur mit einfachen „Schubladen“. Mehrere Tags ermöglichen mehrere Einstiegspunkte.

Doch welche Tags nehmen? Welches Keyword, Schlagwort, Stichwort passt zu meinem Datenbestand? Welchen Begriff wähle ich? Aufpassen bei Synonymen/Mehrdeutigkeiten und Schreibweisen! Wer mehr als zehn Tags benutzt, sollte eine Liste erstellen, um nicht durcheinander zu kommen: kontrolliertes Vokabular in einem eigenen Thesaurus!

Professionelle kontrollierte Vokabulare, wie sie in Bibliotheken und in der Forschung verwendet werden, sind Grundlagen von Normdatensammlungen wie etwa der Gemeinsamen Normdatei der Deutschen Nationalbibliothek oder der amerikanischen Library of Congress Subject Headings (mit anderen Normdatenbanken kombiniert im internationalen Dienst VIAF). Die Datenbank BARTOC enthält Informationen zu über mehr als 5.000 Wissensorganisationssystemen wie Klassifikationen, Thesauri, Ontologien und Normdateien.

Tagging ist also ein weites Feld!

In der Informatik wird unter Tagging die Auszeichnung eines Datenbestandes verstanden, in der Computer- und Korpuslinguistik die Annotation von Wörtern (z.B. Part of speech Tagging).

Wer im Hinblick auf historische Quellen tiefer in das Thema einsteigen möchte, kann am Online-Workshop „Transkribieren − Kodieren – Annotieren“ am 26. und 27.11.2020 teilnehmen:

https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2020/10/online-workshop-transkribieren-kodieren-annotieren/

Beispiel: in iPhoto nach Orten getaggte Fotos mit Goethe- und Schillerbezug