Mit der Kirche in der niederländischen Gesellschaft befassten sich am vergangenen Wochenende Wissenschaftler aus Theologie, Rechts- und Kommunikationswissenschaft bei einer Tagung, zu der die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Erfurt unter dem Titel „Mitgestalterin oder Außenseiterin?“ eingeladen hatte.
„Wir verstehen oft selbst nicht, was in unserem Land los ist“ - mit diesen Worten umriss dabei Prof. Dr. Erik Borgmann, Systematischer Theologe an der Universität Tilburg, die heutige Situation von Kirche und Gesellschaft in den Niederlanden. Nicht eine Atheisierung der Gesellschaft, aber einen Relevanzverlust der christlichen Kirchen konstatierte er. Religiöse Weltbilder seien gegen säkulare eingetauscht worden.
Je 30 Prozent der Niederländer gehören einer christlichen Kirche an, bezeichnen sich als religiös Interessierte, zählen sich zu den Atheisten oder Antireligiösen. 900.000 Muslime leben im Nachbarland, etwa 200.000 besuchen regelmäßig Moscheen. Wiederholt war bei der Erfurter Tagung von einer Veränderung der religiösen Praxis die Rede, die aber keine Wiederkehr der tradierten Form der Kirchen des Abendlandes bedeute. So zeigte die Juristin und Politikerin Prof. Dr. Sophie van Bijsterveld, wie das Verhältnis von Kirche und Staat in Bewegung geraten ist. Es gebe in den Niederlanden ein neues Interesse an Religion, das nach neuen Formen der gegenseitigen Bezogenheit verlange.
Und auch dies wurde bei der Tagung deutlich: In der niederländischen Gesellschaft wird Religion häufig als ein isoliertes Phänomen betrachtet, obgleich man es auch in Parallele zu anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sehen kann. Auf jeden Fall existiert ein öffentliches Interesse an Religion, demgegenüber ein alleiniges Beharren auf dem Trennungsprinzip von Staat und Religionsgemeinschaften nicht angemessen ist.
Der Tilburger Ethiker Prof. Dr. Frans Vosman indes erläuterte für die deutschen Zuhörer verschiedene Aspekte der Euthanasiedebatte in den Niederlanden. Euthanasie sei auch dort verboten, dennoch gibt es Gründe, warum Ärzte in diesen Fällen nicht strafrechtlich verfolgt werden. Diese Konstruktion entspricht einem partiell anderen Rechtssystem als man es in Deutschland kennt. Vosman erläuterte dazu das im Hintergrund stehende Beratungs- und Entscheidungssystem. Er beklagte dabei vor allem eine Soziologisierung der Rechtsmoral. Moral und Ausführungsregeln seien beständig in Bewegung. Nach Vosman fehlen der niederländischen katholischen Kirche Mitarbeiter, die sich an dieser Debatte qualifiziert beteiligen können. Die Theologie werde hierbei nicht in Anspruch genommen. Die Kirche sei unfähig, die eigene Tradition gewinnend einzubringen. „Die Kirche verdampft“, pointierte Vosman.
Der Amsterdamer Kommunikationswissenschaftler Prof. em. Dr. Joan Hemels verlangte, die Kirche müsse bei öffentlichen Diskussionen „mitsurfen“. Die niederländischen Medien seien sich der Bedeutung von Religion bewusst, es gebe dafür auch einen Nährboden in der Gesellschaft. Nach Hemels muss die Kirche die Mitgestaltung öffentlicher Diskurse als grundlegende Aufgabe verstehen. Sie müsse Spuren hinterlassen. Dies sei allerdings nur möglich, wenn die Medienkompetenz entsprechend ausgeprägt ist.
Tollie Swinkels, Liturgiewissenschaftler in Tilburg und Lehrer für Religionsbildung, dokumentierte indes, dass religiös geprägte Rituale, aber auch im engeren Sinne kirchlich geprägte Wallfahrten und Prozessionen in den Niederlanden auf wachsende Resonanz stoßen. Gerade Wallfahrten sieht Swinkels als offenen Treffpunkt von Kirche und Gesellschaft, sie ermöglichten vielfältige Bedeutungszuschreibungen. Kirchliche Prozessionen in der Öffentlichkeit dienten der Bildung wie Vermittlung von Image, seien aber auch Erlebnis religiöser Identität.
Die Referate und Diskussionen zeigten bei dieser Tagung ein differenzierteres Bild von Religion und Kirche in den Niederlanden, als es in Deutschland verbreitet ist. Die Organisatoren - die Kirchenrechtlerin Prof. Dr. Myriam Wijlens und der Liturgiewissen-schaftler Prof. Dr. Benedikt Kranemann, beide von der Universität Erfurt - wiesen auf die Parallelen wie Unterschiede zur Situation in Deutschland hin. Die Kenntnis der religiösen Situationen im Nachbarland hilft ihrer Ansicht nach, unterschiedliche religiöse Verhältnisse zu verstehen, die in der Politik der EU eine immer größere Beachtung finden. Beide hoben als bemerkenswert hervor, welche Pluralität religiösen und kirchlichen Lebens in den als säkularisiert eingeschätzten Ländern Westeuropas zu beobachten sei und sich offensichtlich auch immer wieder neu entwickle.