Viel zu früh sei es. Zu schmerzhaft. Eben nichts für Kinder. Dies und Ähnliches hören Prof. Dr. Karin Richter, emeritierte Professorin für Grundschulpädagogik an der Universität Erfurt, und die renommierte Kinderbuchautorin Mirjam Pressler oft, wenn sie mit Kindern über Judenverfolgung und Holocaust sprechen wollen. Viele Eltern und Lehrer scheuen sich, das Thema mit Kindern zu bearbeiten. Vielleicht, weil sie nicht vermitteln können, was sie selbst kaum verstehen. Vielleicht aus Furcht vor Fragen, auf die sie keine Antworten finden. Vielleicht, weil sie die Kleinen schützen wollen. Vor der Geschichte?
„Die Frage ist doch nicht, wann wir die Kinder mit diesen Themen konfrontieren, sondern auf welche Weise“, sagen Karin Richter und Mirjam Pressler. „Wenn wir Kinder zu kritischen, verantwortungsbewussten und in Sachen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zu widerständigen Menschen erziehen wollen, müssen wir damit frühzeitig anfangen.“ Um dies auf einfühlsame Weise tun zu können, braucht es jede Menge Informationen. Über das Wesen der Kinder, ihre kindliche Seele, aber auch über die deutsche Geschichte selbst und die Sprache, in der sie der jeweiligen Altersgruppe entsprechend vermittelt werden kann. Die mehrfach ausgezeichnete Kinderbuchautorin, die selbst unzählige Bücher zu diesem Thema geschrieben oder übersetzt hat, weiß: „Kinder finden den Zugang zu schwierigen Themen wie dem Holocaust eher über ihr empathisches Erleben als über Zahlen und Fakten. Wenn sie beispielsweise die Tagebücher der Anne Frank lesen und damit die Innenwelt des Mädchens kennen und mitfühlen lernen, machen sie sich Schritt für Schritt und auf eine eher behutsame Art mit dem Thema vertraut, ja am Ende haben sie sogar das Gefühl, ein jüdisches Mädchen zu ´kennen’“. Nur ein Einstieg in das Thema. Viele weitere, weniger bekannte, hat die Kinder- und Jugendliteratur zu bieten. „Wenn man die Neugier der Kinder weckt – am Lesen und am Stoff selbst – die Auseinandersetzung damit begleitet, Fragen nicht unbeantwortet lässt, und wo möglich vielleicht sogar einen Bezug zum eigenen Lebensumfeld herstellt, kann man auch junge Menschen für ein solch schmerzhaftes Kapitel unserer Geschichte sensibilisieren.“
Wie viele solcher Möglichkeiten es gibt, haben Mirjam Pressler und Prof. Karin Richter in einem Seminar in diesem Wintersemester ihren Studierenden im Studium Fundamentale an der Universität Erfurt gezeigt. Mit erstaunlicher Resonanz. „Wir waren überrascht, wie viel Neugier und Engagement die jungen Leute – unter ihnen viele angehende Pädagogen – mitgebracht haben“, sagen die beiden Frauen, die das Seminar in diesem Jahr erstmals gemeinsam an der Uni angeboten haben. In Teams haben die Studierenden darin Texte und Übersetzungen von Mirjam Pressler bearbeitet und analysiert und ihre Ergebnisse dann vor dem Auditorium – und der Autorin selbst – präsentiert, immer begleitet von Lesesequenzen Presslers. Ein intensives Arbeiten, das ihnen gezeigt hat, auf welch unterschiedliche Weise man sich schwierigen Themen wie Verfolgung und Holocaust nähern und wie verschieden man sie vermitteln kann. „Ich habe den Studierenden immer gesagt, fragt nach den Hintergründen der Geschichte und macht sie euch bewusst“, erklärt Karin Richter. „Nur wer gut informiert ist, fürchtet sich nicht vor der Auseinandersetzung damit und so eben auch nicht vor den - manchmal auch unbequemen - Fragen der Kinder.“
Dass es diesbezüglich ein Bedürfnis gibt, hat nicht zuletzt eine Veranstaltung in dieser Woche bestätigt, bei der Prof. Karin Richter zusammen mit Dr. Monika Plath von der Universität Erfurt ihr Buch „Holocaust in Bildgeschichten“ – mit einem Vorwort von Mirjam Pressler - vorgestellt haben. „Holocaust – (k)ein Thema für Kinder?“ war der Abend überschrieben, der Raum mit interessierten Zuhörern rasch gefüllt. „Das Buch ist der Versuch einer Hilfestellung für Erwachsene im Umgang mit Kindern und dem Thema Judenverfolgung“, erklärt Richter. Ein Glossar erläutert dabei kindgerecht wichtige Begriffe. Zum Buch gehört außerdem eine DVD mit dem Oscar-prämierten Film „Spielzeugland“. Erprobt und bearbeitet haben Plath und Richter das Ganze bereits bei Lesungen und Gesprächen mit Kindern der vierten und sechsten Klasse. „Wir haben dabei die Erfahrung gemacht, dass die Kinder sehr wohl Interesse am Thema zeigen und sehr aufmerksam sind, wenn man ihnen einen ihrem Alter entsprechenden Zugang verschafft“, sagten die beiden Dozentinnen und wollen nicht nachlassen in ihren Bemühungen, die Hemmschwellen von Eltern und Lehrern bei der Vermittlung des Themas Holocaust abzubauen.
„Auch für mich selbst sind Lesungen vor jungen Leuten doch immer wieder neu und überraschend“, sagt Mirjam Pressler. „Ich lerne dabei, die Geschichten durch ihre Augen zu lesen und manchmal ganz neu zu betrachten. Das ist eine wunderbare Erfahrung.“