Als keineswegs gescheitert bezeichnet Prof. Dr. Kai Brodersen, Präsident der Universität Erfurt, den Bologna-Prozess, der vor zehn Jahren als europaweite Studienreform angestoßen worden war. Er reagiert damit auf immer neue Kritik am Bologna-Prozess, beispielsweise die Forderung des Europäischen Informations-Zentrums (EIZ) Thüringen in der Thüringer Staatskanzlei nach einer „Reform des Bologna-Prozesses an deutschen Hochschulen als Voraussetzung für innovative und kreative Ausbildung in Europa“.
„Diese Aussage impliziert, dass der Bologna-Prozess einer Reform bedarf, ohne die die ‚Voraussetzung für innovative und kreative Ausbildung in Europa‘ fehlt“, kritisiert Brodersen. „Es geht hier nicht darum, ob in Einzelfällen manches noch nicht so perfekt organisiert ist, wie wir das in Deutschland erwarten. Es geht um die Behauptung, dass der Bologna-Prozess in Deutschland bisher missglückt ist.“ Dem müsse energisch widersprochen werden. Es sei ein Fehler, wenn man ein Studium auf eine „Ausbildung” reduziere und damit, die Chancen der Hochschulbildung missachte. Wer solche Fragen stelle, spiele mit den Lebenschancen der jungen Leute, die sich für ein Studium an den staatlichen Hochschulen in Thüringen – und damit für den Bologna-Prozess – entschieden haben.
An der Universität Erfurt sind seit Jahren alle Studiengänge – einschließlich der früher zu kirchlichen oder Staats-Examina führenden – nach den Bologna-Vorgaben umgesetzt, für die in der Bundesgesetzgebung ein Rahmen erstellt worden ist, den der Freistaat Thüringen selbst ausgefüllt und für alle Hochschulen verbindlich gemacht hat. Gerade der Bologna-Prozess habe die Disziplinen dazu gezwungen, gründlich darüber nachzudenken, was in drei Jahren an Inhalten und Methoden vermittelt werden kann, aus fachlichen Gründen auch vermittelt werden muss und was nicht. An der Universität Erfurt stehe deshalb nicht Stofffülle, sondern Methodenkompetenz im Zentrum des Studiums.
Brodersen: „Es ist der Bologna-Prozess, der – wenn man ihn klug gestaltet – allgemein- und persönlichkeitsbildende Elemente im Studium verbindlich machen kann und eben nicht nur die ‚Ausbildung‘ umfasst. An der Universität Erfurt müssen alle Studierenden ein Sechstel ihres Studiums in disziplinübergreifende, persönlichkeitsbildende und berufsfeldbezogene Lehrveranstaltungen investieren – und die dafür notwendige Zeit ist bei der Festlegung der disziplinären Studieninhalte nicht irgendeiner Laune überlassen, sondern verbindlich eingeplant. Im Übrigen beenden mehr als 90 Prozent der BA- bzw. MA-Studierenden an der Universität Erfurt ihr Studium in der Regelstudienzeit“. Es sei ebenso der Bologna-Prozess, der eine Mobilität zwischen Studium und Beruf, erneutem Studium und erneuter Berufstätigkeit ermögliche. Und auch ein Wechsel ins Ausland lasse sich nicht nur während eines Stadiums einrichten, sondern auch zwischen den einzelnen Stadien, sagt Brodersen. „Wir lösen das ‚Anerkennungsproblem‘ hier beispielsweise mit sogenannten ‚learning agreements‘.“ Und dies mit Erfolg, wie sich im stetig wachsenden Anteil international mobiler Studierender an der Universität Erfurt zeige Darüber hinaus biete der Bologna-Prozess auch eine neue Sicherheit und damit eine soziale Mobilität, indem ein Studium für diejenigen, die es finanzieren müssen, in einer ihnen vorher bekannten Dauer abzuschließen sei.
Prof. Dr. Kai Brodersen: „Die Universität Erfurt zählt heute rund 5500 Studierende, die sich aus gutem Grund für ein Studium in Thüringen entschieden haben – und zwar für ein Studium, das sich dem Bologna-Prozess verpflichtet weiß. Es fehlt, mit Verlaub, eine Begründung dafür, diese, wie wir meinen, kluge Lebensentscheidung der jungen Menschen mit unbedachten Formulierungen so pauschal infrage zu stellen. Es sind unsere Studierenden, die durch ihr Studium zu einer innovativen und kreativen Kraft in Europa werden“.