Universität Erfurt

Erfolgreiche Spurensuche: Pressemitteilung Nr.: 44/2009 - 26.03.2009

Das Rätsel um ein fünfseitiges Fragment, das Lessings Bruder Karl 1784 unter dem Titel „Historische Einleitung in die Offenbarung Johannis“ in Lessings theologischem Nachlass veröffentlich hat, scheint gelöst. Der Direktor des Gothaer Forschungszentrums für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, Prof. Dr. Martin Mulsow, hat in einem umfangreichen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erörtert, dass es sich bei dem Text um eine Lessingsche Übersetzung der ersten Thesen des Textes des Hugenotten Firmin Abauzit handelt. Martin Mulsow, der als Professor für Wissenskulturen der europäischen Neuzeit an der Universität Erfurt lehrt, bereitet eine Edition des gefundenen Textes vor.

Nach dem Tod von Lessing im Februar 1781 waren auf seinem Schreibtisch Manuskripte zur Religion und Theologie aus den späten Jahren in Wolfenbüttel aufgefunden worden. 1784 editierte sein Bruder einen Teil dieser Papiere in einem Band, darunter den Text zur Apokalypse, der schon nach wenigen Seiten der Historischen Einleitung abbricht. Er vermerkte, dass es sich bei dem Bruchstück, wohl um einen Text aus dem Winter 1777/78 handele. Spätere Lessing-Ausgaben setzten die Datierung vorsichtiger mit 1776 oder noch davor an. Vom Rest des Bruchstückes gab es bislang keine Spur. Prof. Dr. Martin Mulsow fand nun bei seiner Arbeit an der Biographie des Spätaufklärers Christian Ludwig Paalzow in dessen Brief vom 29. April 1793 an seinen Verleger Gebauer in Halle den entscheidenden Hinweis. Darin bot Paalzow seinem Verleger, die noch ungedruckte Fortsetzung des fünfseitigen Manuskripts aus dem Lessing-Nachlass an. Der Verleger druckte den vollständigen Text 1794 in wenigen Exemplaren. Professor Mulsow hat das Büchlein in der Thüringer Landesbibliothek Jena aufgespürt, sich intensiv mit dem Lessing zugeschriebenen Text befasst und verschiedene Thesen geprüft. Für Lessing als Verfasser des ganzen Textes spreche zwar, dass man aus Briefen und Notizen von seiner Beschäftigung mit der Thematik wisse, aber „das Fehlen jeglichen Bezuges auf die ausführliche zeitgenössische Debatte um die Kanonizität der Apokalypse“ mache die Datierung und Einordnung des Textes sehr schwierig. Da sich Sätze eines Voltaire-Artikels von 1764 darin wiederfänden, müsste der Text nach 1764, aber vor 1770 entstanden sein. Die andere Möglichkeit sei, dass der Text zur Gänze von einem anderen Verfasser geschrieben wurde. Mulsow ist sich sicher, die richtige Lösung gefunden zu haben. Voltaire habe seinen Artikel zur „Apocalypse“ auf der Grundlage eines klandestinen Manuskripts des Hugenotten Firmin Abauzit, der Frankreich verlassen hatte und in Genf als Bibliothekar lebte, geschrieben. Lessing müsse das Manuskript bei seinen Bibelstudien in die Hände bekommen haben. Er interessierte sich für die Thesen und begann sie zu übersetzen. „Das ist das von Lessings Bruder postum veröffentlichte Fragment, das nicht von Lessing selbst stammt, sondern nur von ihm übersetzt wurde“, so Mulsow. Paalzow sei Übersetzer und Fälscher zugleich gewesen. Er war offenbar ebenso wie Lessing in Kenntnis des Textes von Abauzit gekommen und übersetzte die folgenden 80 Seiten im Stil von Lessing. So versuchte er den Text aufzuwerten und in eine „Lessing-Nähe zu schmuggeln“. „Das Zirkulieren nichtpublizierter Texte im Untergrund wie der Transfers des Manuskripts von Abauzit zu Voltaire, zu Lessing und dann zu Paalzow, zeigt, dass die historische Kritik auch in dieser Zeit aktiv war“, so Mulsow, „nur konnte sie sich nicht öffentlich artikulieren“. Ihr Auftauchen bei Lessing sei nur Symptom eines großen Prozesses.

Mulsow will die Untergrundforschung in Gotha weiter profilieren. Für das Graduiertenprogramm „Untergrundforschung 1600-1800.Heterodoxie, Dissidenz und Subversion im Spannungsfeld von Religion und Aufklärung“ sind jetzt fünf Doktoranden-Stipendien vergeben worden.

Weitere Informationen/Kontakt:

http://www2.uni-erfurt.de/forschungszentrum-gotha/

Prof. Dr. Martin Mulsow

 

  • +49(0)361/737-4451

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