Die zur Universität Erfurt gehörende Forschungsbibliothek Gotha hat bei ihren Vorbereitungen zur Ausstellung „Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke“ im Thüringischen Staatsarchiv Gotha das Schulzeugnis von August Hermann Francke (1663–1727), dem Begründer der heute unter seinem Namen firmierenden Franckeschen Stiftungen in Halle, entdeckt. „Es handelt sich um eine echte Rarität, da Schulzeugnisse aus dem 17. Jahrhundert nur sehr selten überliefert sind“, erklärt Dr. Sascha Salatowsky, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsbibliothek Gotha.
Dass die Schulzeugnisse dieser Zeit im Staatsarchiv archiviert werden, war zwar bekannt, aber nach Francke wurde noch nie konkret gesucht. Die Schulzeugnislisten aus der Zeit ermöglichen einen tiefen Einblick in die noch weitgehend unerforschte deutsche Schulgeschichte des 17. Jahrhunderts, die wesentlich vom Herzogtum Sachsen-Gotha unter Herzog Ernst dem Frommen mit innovativen Bildungskonzepten geprägt worden ist.
Francke verbrachte fast seine gesamte Kindheit und Jugend in Gotha. Lange Zeit privat zu Hause unterrichtet, besuchte er erst 1676 im Alter von 13 Jahren und auch nur für ein Jahr das Gothaer Gymnasium. Er kam sogleich in die Classis Selecta, der damals höchsten Klasse am Gymnasium. Hier war er der jüngste Schüler und musste sich mit Schulkameraden messen, die überwiegend 20 Jahre und älter waren. Das entdeckte Jahresabschlusszeugnis von 1677 lässt einen Blick auf seine Leistungen zu: Sein moralisches Verhalten und seine Auffassungsgabe wurden als gut bezeichnet. Seine Kenntnisse in Hebräisch und Griechisch waren im Unterschied zu seinen Latein-Kenntnissen stark verbesserungsfähig. Auch seine Leistungen in den Bereichen „Neues Testament“ und „Kirchengeschichte“ wurden als nur durchschnittlich bewertet. In Ethik und Physik bekam er dagegen gute Noten. Insgesamt zeigt das Zeugnis einen Schüler, der sich in der höchsten Klasse wacker geschlagen hat. Warum er die Schule bereits nach einem Jahr wieder verließ, lässt sich nicht mehr klären.
Der Fund ergänzt die reichhaltigen Bestände von Handschriften aus dem alten Gothaer Gymnasium, die heute auf die Forschungsbibliothek Gotha, das Thüringische Staatsarchiv Gotha sowie das Stadtarchiv Gotha verteilt sind. Mit ihnen kann die Entstehungsgeschichte des modernen Schulwesens im 17. und frühen 18. Jahrhundert für den Thüringer Raum sehr detailliert nachgezeichnet werden. Die alten Zeugnislisten des Gothaer Gymnasiums, die bis 1641 zurückreichen, sind hierbei ein unverzichtbares Instrument für Milieustudien. Mit ihnen kann die soziale Struktur eines Gymnasiums untersucht werden, das unter Andreas Reyher zu einer Musterschule mit einer weit über Thüringen hinausweisenden Bedeutung avancierte.
Auch Francke, der Gotha Zeit seines Lebens eng verbunden blieb, erkannte die Bedeutung dieses Gymnasiums. Er orientierte sich beim Aufbau der Bildungseinrichtungen in Halle/Saale (dem Grundstein der heutigen Franckeschen Stiftungen) an Reyhers Bildungspraxis, sorgte aber zugleich dafür, dass das Gothaer Gymnasium unter Gottfried Vockerodt in den 1690er Jahren zu einer pietistischen Ausbildungsstätte wurde.
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