Heiß diskutiert wird derzeit in den Medien, ob der Staat Familien vorschreiben kann, welche Sprache(n) sie zuhause sprechen sollen. In dieser Debatte wird jedoch der Rolle der Familiensprache für den kindlichen Spracherwerb kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Mit aktiver Beteiligung der Professur für Spracherwerb und Mehrsprachigkeit der Universität Erfurt haben nun Linguisten und Entwicklungspsychologen dazu Stellung genommen:
"Gegenwärtig wird in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert, ob man Familien vorschreiben oder anregen darf, welche Sprache sie in welchen Kontexten sprechen. In dieser Stellungnahme möchten wir auf einen in dieser Debatte wenig beachteten Aspekt hinweisen: wissenschaftliche Erkenntnisse zum Spracherwerb und zur kindlichen Entwicklung. Es steht außer Frage, dass für Kinder das Erlernen der deutschen Sprache entscheidend für schulischen Erfolg und damit auch für spätere Berufschancen ist. Der Spracherwerb soll und muss daher – insbesondere bei Kindern, die Deutsch als frühe Zweitsprache erwerben – entsprechend gefördert werden.
Erfolgreicher Spracherwerb (sowohl in der Erst- als in der Zweitsprache) braucht eine sprachanregende Umgebung und Sprachlerngelegenheiten mit vielfältigen, hinreichend komplexen und fehlerfreien Sprachbeispielen. Geringe sprachliche Anregung, fehlerhafte und wenig komplexe Sprachbeispiele hingegen können den kindlichen Spracherwerb verzögern. Zudem würden Kinder in solchen Sprachumgebungen die deutsche Sprache in fehlerhafter Form erlernen. Dies würde den weiteren Erwerb bildungssprachlicher Kompetenzen erschweren. Das für den schulischen Erfolg notwendige Sprachniveau ist auf diesem Weg nicht erreichbar. Solch eine als problematisch einzuschätzende Spracherwerbssituation kann entstehen, wenn Eltern angehalten werden in einer Sprache zu sprechen, die sie selbst nicht auf Muttersprachniveau beherrschen.
Sprache ist auch ein wesentliches Medium für erfolgreiche Erziehung und eine enge Eltern-Kind-Beziehung. Es ist wichtig, dass sich Eltern im Gespräch mit ihren Kindern detailliert und sicher ausdrücken können. Wenn Eltern bestimmte Themen aufgrund von sprachlichen Engpässen (zum Beispiel in einer Fremdsprache) nicht oder nicht hinreichend besprechen können, kann das der sozialen Entwicklung der Kinder schaden. Insbesondere emotionale Themen werden in solchen Konstellationen zu kurz kommen. Empfohlen wird daher, dass Eltern mit ihren Kindern die Sprache sprechen, die sie gut können und in der sie sich wohl fühlen – egal ob dies Deutsch ist oder eine andere Sprache.
Insgesamt sprechen wissenschaftliche Erkenntnisse also dagegen, Eltern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, dazu anzuhalten in der Familie Deutsch zu sprechen. Kinder erlernen die deutsche Sprache problemlos in Kindertageseinrichtungen – wenn diese eine hohe Qualität aufweisen und sie diese lange genug vor dem Schuleintritt besuchen – mindestens zwei bis drei Jahre ist hier die Empfehlung. Zweisprachigkeit ist – auch schon im frühesten Kindesalter – unproblematisch und kann unter guten Bedingungen sogar positive Effekte auf die gesamte kognitive Entwicklung haben."
Zum selben Thema gibt es bei Youtube ein Interview mit Prof. Dr. Annick De Houwer von der Universität Erfurt, das im Sommer 2013 vom Bayerischen Staatsinstitut für Förderpädagogik IFP aufgenommen wurde (www.youtube.com/watch?v=BbxgqPizAlc).