Religiöse Praxis und Liturgie sind starke Identitätsmarker für Migranten. Das ist das Ergebnis einer interdisziplinären Tagung am Theologischen Forschungskolleg der Universität Erfurt. Theologen, Historiker, Soziologen und Volkskundler diskutierten im November die Bedeutung von Liturgie und Frömmigkeit bei der Integration von Migranten im 19./20. Jahrhundert. Sie konzentrierten sich dabei auf den deutschsprachigen Raum. Welche Funktion Messfeier und Andacht, Prozessionen und Wallfahrten, Kirchenlied und Heiligenverehrung für Zuwanderer und Vertriebene besitzen, ist bislang kaum untersucht worden. Doch spielen sie, so der Organisator der Tagung, der Erfurter Liturgiewissenschaftler Prof. Dr. Benedikt Kranemann, für diese Gruppen eine besondere Rolle. Durch die Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Praxis des Gottesdienstes fällt sowohl auf die kirchlich-religiöse Praxis als auch auf Migrationsprozesse neues Licht. Vielfältige Praktiken, sehr unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen, Integrationsprozesse wie -verweigerungen sind demnach mit dieser religiösen Praxis verknüpft. Für Prof. Dr. Traugott Jähnichen, Bochum, zeigt das Beispiel des Ruhrgebiets, wie unterschiedlich diese Praxis in den Migrantengruppen aussah. Neben der Bewahrung einer religiösen Tradition steht für den evangelischen Sozialethiker der Verlust durch Anpassung an die dominate Religionskultur. Der Erfurter katholische Kirchenhistoriker Prof. Dr. Josef Pilvousek betonte, für den Klerus habe im 19. und frühen 20. Jahrhundert das Seelenheil, nicht die Integration von Menschen im Vordergrund gestanden. „Beheimatung“ durch die Liturgie sei nur ein Nebeneffekt gewesen. Die Aufnahme von Vertriebenen und Zuwanderern sei ein höchst spannungsvolles Geschehen gewesen. Laut Prof. Dr. Wolfgang Ratzmann, evangelischer Praktischer Theologe in Leipzig, war evangelischerseits das Ziel die Integration in die bestehende Kirche. Auf beiden Seiten habe dieser Prozess Veränderungen hervorgerufen. Dr. Elisabeth Fendl vom Johannes-Künzig-Institut in Freiburg/Br. präsentierte ein breites Feld unterschiedlicher religiöser Praktiken, die bei der Integration von Vertriebenen eine Rolle gespielt haben. Es geht um das „symbolische Gepäck“, das Menschen mitgebracht haben. Religiöses Brauchtum und Frömmigkeit binden an die Heimat, an Liedern und Bildern hängen Emotionen. Prof. Dr. Jürgen Bärsch, Liturgiewissenschaftler an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, beschrieb mit Blick auf polnische Industriearbeiter, die im 19. Jahrhundert ins Ruhrgebiet einwanderten, und auf Flüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg die Liturgie als „emotionale Brücke“ zur Heimat. Doch konnte in der Liturgie auch Nationalismus demonstriert werden. So waren mit der religiösen Praxis erhebliche Konflikte in der Seelsorge verbunden. Seit den 1980er-Jahre wurde im Ruhrbistum Essen Liturgie explizit als Teil von Integrationskonzepten verstanden. Torsten Müller und Theresa Pabst, Doktoranden in Erfurt, zeigten am Beispiel des Eichsfelds und der Stadt Halle, welche Rolle Liturgie für Migranten und Flüchtlinge spielte, wie sie aber auch in erheblichem Maße ausgrenzen konnte. Nach Prof. Dr. Ansgar Franz, Liturgiewissenschaftler in Mainz, war das Kirchenlied für die Vertriebenen nach dem 2. Weltkrieg identitätsstiftend, die Bistümer taten sich jedoch mit der Integration solcher Lieder in ihre Gesangbücher schwer. Dr. Ursula Olschewski, Paderborn, beschrieb die Vertriebenenwallfahrten ins westfälische Werl als Suche nach Trost, Möglichkeit zum Austausch mit Schicksalsgenossen und Beheimatung. Die Erfurter Tagung unterstrich nicht nur die Bedeutung der religiösen Praxis für Migranten, sondern auch die Vielfalt und die Unterschiede nach Migrantengruppe, Epoche und Region. Das Thema „Liturgie und Migration“ scheint durch die Wissenschaft gerade erst entdeckt zu werden. Es bleibt indes aktuell. Dass Religion wandert, ist, so der Bochum Religionssoziologe Prof. Dr. Alexander-Kenneth Nagel, ein auch heute breit zu beobachtendes Phänomen. Dabei sind gegenwärtig die Zunahme religiöser Vielfalt und neue Formen religiöser Institutionalisierung besonders markant.